Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Präsidentschaftswahl
1,4 Millionen Türken wählen in Deutschland

Erstmals durften Türken in Deutschland wählen, ohne in die Heimat zu reisen. An sieben Standorten konnten bis heute die Wahllokale besucht werden. Ministerpräsident Erdogan von der konservativen AKP hat das Wahlrecht im Ausland eingeführt - und das nicht ganz uneigennützig.

Von Susanne Grüter | 03.08.2014
    Auch auf dem Messegelände in Karlsruhe konnten türkische Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme für die Präsidentschaftswahl in der Türkei abgeben.
    Auch auf dem Messegelände in Karlsruhe konnten türkische Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme für die Präsidentschaftswahl in der Türkei abgeben. (picture alliance / dpa)
    Wählerin:
    "Ich finde das wunderbar, dass wir dieses Recht jetzt haben. Unsere Stimme ist für Erdogan und wir hoffen, dass er gewinnt."
    Dincer Gülhan hat gleich am ersten Wahltag einen Termin ergattert und sich von Euskirchen nach Düsseldorf aufgemacht. Sie gehört mit zu den ersten Wählern, die am Donnerstag kurz nach acht Uhr ihre Stimme im ISS Dome abgaben. Dort, wo sonst die Düsseldorfer Eishockeyspieler übers Feld flitzen.
    Keine Briefwahl in der Türkei
    Noch nie konnten die Türken ihren Staatspräsidenten direkt wählen, eine Premiere also - und weiteres Novum: Türken im Ausland durften das sogar von Deutschland aus tun – dank einer Gesetzesänderung der Regierung Erdogan. Früher waren sie gezwungen zum Wählen in die Türkei zu fahren. Wahlberechtigt war, wer 18 Jahre alt ist und einen türkischen Pass besitzt. Briefwahl ist in der Türkei nicht erlaubt.
    Der letzte von vier Wahltagen ist vorüber, die Wahllokale an den sieben zentralen Standorten sind inzwischen geschlossen. Neben Düsseldorf zählten dazu Essen, Berlin, Hannover, Frankfurt, München und Karlsruhe. Viele Türken sind durchaus begeistert zur Wahl gegangen, allerdings gab es einige organisatorische Hürden.
    Wähler:
    "Erstes Mal, wir freuen uns. Ich habe 06:00 Uhr Feierabend gemacht, ich müsste normalerweise im Bett sein, aber für Erdogan – ist schon klar, ok. Wir müssen zum Beispiel dreimal kommen wegen des Termins. Freitag ist für meine Frau, und für meinen Sohn am Sonntag. Das wird geregelt, fürs erste Mal sagen wir gar nichts."
    "Schlechte Organisation. Hätte ich lieber Briefwahl gehabt, wäre einfacher gewesen.
    "Wenn man denn dann darüber informiert war, war es relativ einfach, also wir konnten uns online registrieren, die Terminierung hat auch hier funktioniert, wir sind hier gespeichert gewesen, man hat uns sofort gefunden in den Daten oder Auflistungen, aber von der Kommunikation her ist es leider nicht bei jedem angekommen."
    Anmeldung erfolgte übers Netz
    Die fast 1,4 Millionen türkischen Wahlberechtigten hierzulande mussten sich zunächst in der Türkei registrieren und dann in den Konsulaten einen Wahltermin geben lassen. Dafür konnten sie sich nur via Internet anmelden. Viele der älteren Generation haben aber keinen Computer. Wer sich nicht rechtzeitig um einen Termin bemüht hatte, bekam einen zugewiesen, ohne Alternative.
    Lange Schlangen vor den Wahllokalen waren nicht zu beobachten - auch wegen der Urlaubszeit, in der viele Türken in der Heimat wählen. In Deutschland rechnen die Konsulate mit einer Wahlbeteiligung um die 30 Prozent.
    Auf dem Messegelände in Karlsruhe (Baden-Württemberg) stehen am 31.07.2014 Menschen vor einem Schild auf dem steht  "Türkische Wahlen".
    In Deutschland lebende Türken können in sieben Städten ihre Stimme abgeben. (picture-alliance/ dpa / Uli Deck)
    Ein System aus Papptrennwänden hat die Düsseldorfer Großhalle vier Tage lang in ein riesiges Wahllokal mit 92 Wahlurnen verwandelt. Fünfköpfige Teams, bestückt mit Computern und Wahlunterlagen, kümmerten sich in ihrem Bereich um die Wähler. Zwei Konsulatsmitarbeiter und jeweils ein Vertreter der drei größten türkischen Parteien sollten dafür sorgen, dass alles mit rechten Dingen zuging. Mit dabei die 20-jährige Wahlhelferin Fati Ciftci.
    "Durch unseren Verein in Neuss, deutsch-türkischer Kulturverein, durch die bin ich an diese Arbeit rangekommen. Einer macht das mit den Stempeln, der andere gibt die Zettel aus, und der andere kontrolliert die Liste, also da sind wir alle schon beschäftigt. Ich habe gerade Semesterferien, deswegen passt das auch, dass ich gerade Freizeit habe und hier mithelfen kann."
    Ausgezählt wird in der Türkei
    Verantwortlich für die Organisation waren die türkischen Konsulate. Nesrin Tunçay, Vizekonsulin in Düsseldorf:
    "Die Stimmen werden abgegeben, gezählt, versiegelt, je Urne, Urne, Urne, also nicht zusammen durchgemischt. Dann werden wir das am vierten Tag abends noch einmal alles in große diplomatische Säcke herein tun, versiegeln, und am 05. - das ist ein Dienstag, wird es nach Köln gebracht und von Köln aus dann natürlich in die Türkei."
    Ausgezählt werden die Stimmen also in der Türkei am dortigen Wahltag, am 10. August. Im Vorfeld der Wahl hatte vor allem die türkische Opposition vor möglichen Manipulationen gewarnt. Der Islamwissenschaftler und Publizist Michael Lüders kennt sich aus mit der türkischen Politik.
    "Auf jeden Fall hat sich die Regierung Erdogan bereit erklärt, auf ihre Kritiker einzugehen, und sie sorgt dafür, dass zumindest in den Konsulaten dann die Wahlurnen bewacht werden. Und auch der Rücktransport in die Türkei soll unter Bewachung erfolgen, insoweit ist ein Rahmen gesetzt, dass es eben nicht zu Betrug kommt. Die Sorge der Opposition erklärt sich mit Blick auf die Kommunalwahlen, die kürzlich stattgefunden haben, hier soll es vor allem in Ankara und Istanbul zu Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung gekommen sein."
    Das Interesse an dieser Wahl ist auch deshalb so groß, weil der Favorit Recep Tayyip Erdogan heißt. Seinen beiden Mitbewerbern von der Opposition werden wenig Chancen eingeräumt. Aufgrund des türkischen Parteiengesetzes kann der Erdogan bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr nicht noch einmal als Ministerpräsident kandidieren.
    Erdogan ist Favorit
    Nun will der AKP-Politiker Staatspräsident werden, in ein Amt wechseln, das eigentlich, ähnlich dem des deutschen Bundespräsidenten, vor allem repräsentative Aufgaben vorsieht. Seine Gegner befürchten daher, er wolle die Befugnisse des Präsidenten massiv ausweiten und damit seine Macht weiter sichern.
    Wählerinnen:
    "Niemals, der ist für mich ein Diktator, und der geht nicht den richtigen Weg. Für mich, der ist kein Mensch."
    "Mein Gefühl ist sehr traurig. Das ist nicht normal, was da passiert alles. Das ist keine Demokratie, kein Vertrauen."
    Ankündigungsplakat der UETD für Erdoagns Auftritt in Köln
    Ankündigungsplakat der UETD für Erdoagns Auftritt in Köln (dpa / picture-alliance / Oliver Berg)
    So äußern sich die Deutschtürken, die ihn nicht gewählt haben. Erdogan – er wird entweder dämonisiert oder heroisiert, selten trifft man auf besonnene Stimmen wie die von Tanju Yolasan aus Köln.
    Diese Tugenden sind in den letzten Monaten oftmals abhanden gekommen. Erdogan spalte nicht nur sein Land, sondern auch die türkische Community in Deutschland, werfen ihm seine Kritiker vor. Beispiel: Erdogans umstrittener Besuch in Köln Ende Mai vor fast 20.000 Anhängern. Gleichzeitig demonstrierten dort ähnlich viele Menschen lautstark gegen ihn.Wähler:
    "Es geht hier um das Staatsoberhaupt, eine repräsentative Figur, Hüter der Verfassung. Ich habe ihn nicht gewählt, wobei ich es auch respektiere, wenn man ihn gewählt hat, und das ist das ganz, ganz Wichtige bei der ganzen Sache, dass wir es auch wieder schaffen sollten, das nicht direkt als Landesverrat zu sehen, sondern wirklich das Ganze auch mit Respekt und Toleranz zu begleiten."
    Demonstrantin:
    "Weil er sehr faschistisch ist und das Land autoritär regiert und keine Minderheiten und so was zulässt."
    Demonstrant:
    "Der ist ein kleiner Hitler."
    Erdogans Deutschlandauftritt
    Die den Protest anführten, sind vor allem Alewiten. Türkeikenner Michael Lüders:
    "Das hängt damit zusammen, dass die Regierung Erdogan eine sunnitische Regierung ist, die gegenüber den Alewiten eine eher distanzierte bis ablehnende Haltung verfolgt. Die Alewiten sind insgesamt wirtschaftlich häufig erfolgreicher als ihre sunnitischen Mitbürger, sie haben ein anderes Verhältnis zu Staat und Gesellschaft, ihr Religionsverständnis ist weniger orthodox, und sie fühlen sich eigentlich eher in Europa mental beheimatet als in dem sunnitischen Glaubenssystem der Regierung Erdogan, auch deswegen gibt es vielfach Unzufriedenheit mit seinem Regierungssystem."
    Vor der überfüllten Lanxess-Arena hingegen harrten Tausende stundenlang aus, um vielleicht doch Erdogan für einen Augenblick zu sehen. Das türkische Fernsehen übertrug den Auftritt live. Viele, die keinen Platz mehr bekommen hatten, schauten sich vor der Halle das Spektakel auf ihrem Smartphone an und lauschten online dem Willkommensgruß ihres Idols.
    15.000 Besucher warten in der Lanxess-Arena auf den Auftritt von Erdogan.
    15.000 Besucher warten in der Lanxess-Arena auf den Auftritt von Erdogan. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Anhängerin:
    "Ich habe sehr großen Respekt vor ihm. In meinen Augen ist er ein sehr großes Vorbild für mich, ein sehr guter Mensch, redet sehr gut. Wir sind stolz auf so einen Präsidenten. Genau. Stolze Türken, stolz auf unser Land."
    Anhänger:
    "Was er mal gesagt hat, wir tun uns vor niemandem niederknien außer vor Gott. Wir danken Gott, dass er uns so einen Führer gegeben hat."
    Anhängerin:
    "Ich bin gerade mal 18 Jahre alt. Ich habe den zum ersten Mal live gesehen, das war ein sehr schönes Gefühl. Er ist unser Vater. Er ist der Regierer. Er hat die Macht in der Hand. Was gesagt wird, dann wird das auch gemacht. Hoch lebe Erdogan."
    Patriotischere Auslandstürken
    Der Vorwurf, der Besuch des türkischen Premiers sei nichts als Wahlkampf gewesen, stört seine Anhänger nicht. Warum der Politiker der islamisch-konservative Partei AKP bei vielen Türkeistämmigen in Deutschland solchen Anklang findet, und damit auch Stimmen bekommt, erklärt Michael Lüders so:
    "Es ist so, dass Auslandstürken, und das gilt für im Ausland lebende Menschen allgemein, zum Teil noch patriotischer sind als die Türken selbst. Die Tatsache, dass das System Erdogan in vielerlei Hinsicht als korrupt zu gelten hat, und mit sehr fragwürdigen Methoden teilweise brutal gegen die Opposition vorgeht, wird von den Anhängern Erdogans in der Türkei wie auch in Deutschland gerne beiseitegeschoben mit dem Argument, das haben die Kemalisten vorher genau so gemacht, nun macht es Erdogan, aber er ist eben einer von uns, wir können damit leben, denn uns geht es insgesamt besser."
    Drei Frauen halten vor der Lanxess-Arena türkische Flaggen hoch
    Zehntausende Erdogan-Anhänger haben sich in Köln versammelt. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Tatsächlich ist die türkische Wirtschaft unter Erdogan in den letzten Jahren stark gewachsen, prestigeträchtige Großbauten wie neue Brücken sind geplant. Einer der weltgrößten Flughäfen soll entstehen. Der Erfolg ist auch für eine Mehrheit im Lande spürbar, und hat Erdogan populär gemacht als Regierungschef, der sich durchsetzt.
    Anhänger :
    "Die wollen, dass die Türkei immer unten bleibt, dass die Türkei immer einen Kredit kriegt, dass die westlichen Mächte Zinsen kassieren von der Türkei. Dieses Geld von den früheren Regierungen war innerhalb von zehn Jahren alles weg. Wo ist das Geld jetzt? Aber dieser Ministerpräsident, Herr Erdogan, er hat gesagt: Nein. Ich zahle keine Zinsen. Ich zahle statt Zinsen für Autobahn, für Aufbau, für Krankenhäuser, für neue Arbeitsplätze."
    Frust in der 4. Generation in Deutschland
    Der Wirtschaftsaufschwung hatte Erdogan sogar im Ausland Anerkennung eingebracht. Das änderte sich nach den Protesten im Gezi-Park und dem Korruptionsskandal im vergangenen Jahr. Auf berechtigte Kritik an seinem harten Vorgehen gegen Opposition, Staatsanwälte und soziale Medien reagierte der Premier dünnhäutig. Auch Bundespräsident Joachim Gauck musste im April diese Erfahrung machen, als er in Ankara das Thema ansprach.
    "Wir fragen dann schon einmal nach, ja muss man denn Twitter oder Youtube verbieten? Wird das wirklich die Demokratie befördern?"
    Erdogan ließ danach wissen, Gauck habe sich nicht wie ein Staatsmann verhalten. Auch Anhänger des Regierungschefs nehmen Kritik nicht einfach hin.
    Anhänger:
    "Statt sich mit der Türkei zu beschäftigen, sollte sich die Regierung lieber mit den NSU-Prozessen beschäftigen, wie das passiert ist, wer das gemacht hat, warum ist das so passiert? Wenn Herr Gauck in der Türkei sagt, dass er Bedenken hat, was in der Türkei gerade läuft, ich habe auch Bedenken, was gerade in Deutschland läuft."
    Vieles kocht im Wahlkampf hoch. Frust bei den in Deutschland lebenden Türken, die zum Beispiel seit Jahren eine doppelte Staatsbürgerschaft fordern, die zwar politisch greifbar scheint, aber noch nicht für alle umgesetzt ist.
    Eine Studentin zeigt einen türkischen Pass und einen deutschen Reisepass
    Eine Studentin zeigt einen türkischen Pass und einen deutschen Reisepass (picture alliance / Daniel Bockwoldt)
    Anhänger:
    "Wir sind kein vollwertiges Mitglied hier. Wir dürfen hier arbeiten, wir dürfen hier wohnen. Man verspricht uns die Doppelte, aber erst Leute, die nach 2000 geboren sind, dürfen die Doppelte haben und die davor geboren sind, dürfen sie nicht haben. Aus diesem Grund will ich sie dann überhaupt nicht haben."
    Diskriminierungserfahrungen sind auch in der vierten Generation der türkischen Einwanderer immer noch präsent, meint der Journalist Baha Güngör von der Türkeiredaktion der Deutschen Welle. Und diese könnten begründen, warum Erdogan gerade bei hierzulande lebenden jungen Türken Anklang findet.
    "Dann kommt ein Erdogan und gibt den Menschen das Gefühl, über die Religion erst einmal Identifikation, du bist ein Türke, du bist ein Moslem, also bist du gut und stark. Dieses Gefühl hat natürlich diesen jungen Menschen etwas gegeben, was sie bislang nicht hatten, nämlich eine Sicherheit, und sie konnten also jetzt ganz normal bei Erdogan für Erdogan brüllen, was sie vielleicht vor zehn Jahren nicht gemacht hätten."
    Muhammet Balaban:
    "Wenn sie keinen Erfolg haben, einen Ausbildungsplatz zu finden, Arbeitsplatz zu finden, das sehen Jugendliche. Aus den Einzelschicksalen wird ein Massenschicksal, die tun sich zusammen, und die laufen den Hasspredigern oder irgendwelchen Gruppierungen in die Arme."
    Sagt Muhammet Balaban, stellvertretender Vorsitzender des Landesintegrationsrates Nordrhein-Westfalen. Viele sähen in Erdogan einen Politiker, der vor dem Westen nicht einknicke. Für Aufregung hatte der türkische Premier 2008 in Köln mit folgender Äußerung gesorgt:
    Recep Tayyip Erdogan:
    "Keiner kann von euch erwarten, dass ihr euch assimiliert. Assimilation ist ein Vergehen gegen die Menschlichkeit. So müssen wir dieses Thema verstehen."
    Auslandstürken als Wählerreservoir
    Nach harscher Kritik aus Deutschland hat er das so nicht wiederholt, sondern danach moderatere Töne angestimmt. Dennoch sei diese Äußerung für den Integrationsprozess auf lange Sicht schädlich gewesen, meint Serap Güler, Landtagsabgeordnete in Düsseldorf von der CDU. Richtig sei aber auch, trotz großer Bemühungen in den letzten Jahren, müsse für die Migranten in Deutschland noch viel geschehen.
    "Die Politik hat einfach die Integration in Deutschland komplett verschlafen, und das gilt auch für jede Partei. Das gilt allerdings auch natürlich für die türkische Regierung. Für die türkische Regierung waren die Gastarbeiter in europäischen Ländern ja nur interessant, wenn es darum ging, Geld in die Türkei zu überweisen. Die Belange, die ihre Landsleute in anderen Ländern haben, das hat die Türkei ja auch lange Zeit nicht interessiert, und dann kommt ein Ministerpräsident namens Recep Tayyip Erdogan und umgarnt diese Leute."
    Erdogan hat die Auslandstürken in Westeuropa schon vor einigen Jahren als Wählerreservoir entdeckt – immerhin machen sie insgesamt fünf Prozent aus. Das hat auch die türkische Opposition mittlerweile verstanden. Die türkischen Parteien haben daher in Deutschland über die Jahre eigene Strukturen aufgebaut, hat Caner Aver vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen beobachtet, das betreffe vor allem Erdogans AKP.
    Erdogan spricht an einem Rednerpult in ein Mikrofon, das er mit der linken Hand hält; mit rechts gestikuliert er. Im Hintergrund das Logo der Union Europäisch-Türkischer Demokraten UETD.
    Der türkische Ministerpräsident Erdogan bei seinem Besuch in Köln 2006 (dpa / Oliver Berg)
    "Politisch betrachtet ist die UETD schon sehr aktiv als Auslandsorganisation der AKP, die sich in ihrer Selbstdarstellung politisch und religiös zwar wertneutral betrachtet, aber faktisch gesehen der verlängerte Arm der Regierungspartei AKP in Europa ist und entsprechend auch die Stimmen mobilisiert."
    Süleyman Celik:
    "Unsere Beziehung zur AK-Partei - die Konrad-Adenauer-Stiftung hat ja eine Beziehung, ein Verhältnis zur CDU. Solch ein ähnliches Verhältnis haben wir auch. Sehr in die Nähe gerückt zu werden, stört mich, weil die UETD für Europa vor allem tätig ist. Das stört uns, dass man uns so sieht, dass wir mehr in die Türkei so schauen."
    Süleyman Celik, Vorsitzender der Union Europäisch-Türkischer Demokraten UETD, betont, dass seine Organisation die Türkischstämmigen mit deutschem Pass immer wieder aufrufe, sich auch an Wahlen in Deutschland zu beteiligen, was bei der letzten Bundestagswahl 2013 auch 70 Prozent getan hätten. Caner Aver vom Institut für Türkeistudien, hat dabei ein interessantes Wahlverhalten entdeckt. Die meisten wählen SPD.
    Caner Aver:
    "Sie kommen aus der Arbeiterfamilie, Arbeiterschicht und entsprechend ist da die SPD die erste politische Heimat für diese Menschen, die ihre Interessen in diesen Parteien auch bei den Grünen zuerst gewahrt sehen. Allerdings wenn man jetzt grob schätzen sollte, kann man sagen, dass etwa 60, 65 Prozent der Türken in Deutschland der Regierungspartei AKP nahe stehen und der Rest eben auf, die anderen Parteien verteilt ist."
    Es scheint, als habe die Opposition derzeit kaum eine Chance gegen Erdogan – auch in Deutschland nicht. Er vermag es, trotz aller Kritik an seinem Führungsstil eine Mehrheit anzusprechen und für Politik in der Türkei zu interessieren. Das schmerzt die CDU-Abgeordnete Serap Güler.
    Serap Güler:
    "Er ist jemand, der gerne polarisiert. Das tun alle Politiker, aber so die Art und Weise, wie er es macht, auch aktuell wieder gegen Israel, die Hetze, die er betreibt, das kann man gar nicht anders beschreiben, und das ist eigentlich die Hauptkritik, dass sich die Menschen hier weniger für das Geschehen vor Ort entscheiden und vielmehr für das, was Erdogan sagt und auch für die Politik in der Türkei."
    Muhammet Balaban:
    "Wenn Erdogan kommt, bringt er Zehntausende von Massen auf die Straße, wenn ein Oppositionsführer von der Volkspartei aus der Türkei CHP kommt, bringt er immerhin auch ein paar tausend Menschen zusammen, wenn Frau Merkel zum Ruhrgebiet kommen würde, dann würden wahrscheinlich ein paar hundert kommen. Die Politiker aus der Türkei sprechen die Seelen und die Herzen der Menschen an, Frau Merkel möchte den Kopf ansprechen, und das ist nicht gut."
    Meint Muhammet Balaban vom nordrhein-westfälischen Integrationsrat.
    Auch wenn das Wahlergebnis erst am 10. August feststeht, dürfte klar sein, wie am Ende der Gewinner – nicht nur in Deutschland - heißt: Recep Tayyip Erdogan - alles andere wäre eine Überraschung. Die Frage ist eigentlich nur, ob es für ihn im ersten Wahlgang reicht. Wenn nicht, würde hierzulande vom 17. bis 20. August nochmals gewählt. Auf jeden Fall sei diese Wahl für Erdogan auch ein Test, sagt der Journalist
    Baha Güngör:
    "Wenn Erdogan jetzt Präsident wird, und der will jetzt also alles nach Möglichkeit an sich reißen, eine Präsidialrepublik daraus machen, dann muss er noch mal die Verfassung entsprechend ändern, und er muss dann noch mal vorzeitige Parlamentswahlen ausschreiben. Und dann kann natürlich sein, dass dann Deutschland zu mindestens einem oder wenn nicht zwei, drei Wahlkreisen aufgeteilt wird, und dann auch Parlamentsabgeordnete nach Ankara entsenden kann, und dann wird wiederum Deutschland interessant auch, und deshalb sind auch diese Erfahrungswerte, die jetzt gesammelt werden, wichtiger als die Stimmen, die jetzt für oder gegen Erdogan dahingehen."