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Präventionsprojekt
Diagnose Pädophilie

Pädophilie ist eine Diagnose und kein Verbrechen - das ist der Ansatz des Präventionsprojekts "Kein Täter werden". Rund 15 Prozent potenzieller Täter hätten bislang weder Kinderpornografie genutzt noch Übergriffe begangen. Damit das so bleibt, werden sie an der Berliner Charité seit acht Jahren therapeutisch begleitet - mit Erfolg.

Von Christiane Habermalz | 25.10.2016
    Eine leere Schaukel auf einem Spielplatz zu sehen
    Etwa ein Prozent der männlichen Bevölkerung in Deutschland leben mit der ständigen Angst, sexuell übegriffig gegenüber Kindern zu werden. (dpa / picture alliance / Sven Hoppe)
    Etwa 250.000 Männer mit pädophiler Veranlagung gibt es Schätzungen zufolge in Deutschland – etwa ein Prozent der männlichen Bevölkerung. Doch längst nicht alle werden auch zu Tätern. Viele leben mit der ständigen Angst davor, dass ihre Neigung entdeckt werden könnte – und mit der Furcht, doch übergriffig zu werden. Hier setzt das Präventionsprojekt "Kein Täter werden" an. Pädophilie sei eine Diagnose und kein Verbrechen, sagt der Sexualwissenschaftler Klaus Beier, Sprecher des Netzwerkes. 7000 Männer hätten sich in den letzten elf Jahren bei ihnen gemeldet und um Hilfe gebeten.
    "Das sind im Durchschnitt 37 Jahre alte Männer. Fast nur Männer. Die sind zu 75 Prozent berufstätig. 50 Prozent von ihnen haben mehr als elf Ausbildungsjahre. 40 Prozent sind in Beziehungen. Und ebenso viele haben Kontakt zu Kindern. Im engeren Umfeld."
    Die meisten von ihnen hätten leider bereits Kinderpornografie genutzt oder sich anderer Übergriffe schuldig gemacht, sagt Beier, nur 15 Prozent hätten noch gar nichts getan. Diese Gruppe wolle man gezielt erreichen und ausweiten.
    "Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?"
    "Wir haben jetzt erstmalig die Chance, diejenigen Menschen zu sehen, die tatsächlich keine Taten begangen haben. Wir nennen sie potenzielle Täter. Und wir haben da Folgendes festgestellt in unseren Untersuchungen: Sie haben eine große Angst vor sozialer Stigmatisierung. Sie haben viele stigmaassoziierte Symptome, sie haben Depressionen, sie haben Rückzugstendenzen, sie haben emotionale Vereinsamung. Und ich sag Ihnen Folgendes: Das sind die Kennzeichen und die Risikofaktoren für die Begehung von Übergriffen und die Nutzung von Missbrauchsabbildungen."
    "Schließlich kam es doch zum Übergriff. Und mir war sofort klar, dass ich eine Grenze überschritten hatte. Obwohl nicht sehr viel passiert war. In den Wochen danach hatte ich immer mehr das Gefühl, dass mir alles entglitt. Dann folgten das Disziplinarverfahren und die Versetzung."
    Das Netzwerk "Kein Täter werden" begann an der Berliner Charité, mittlerweile ist es in elf Bundesländern aktiv. Da es um ein Dunkelfeld gehe, sei Öffentlichkeitsarbeit immens wichtig. Mit einer groß angelegten Werbekampagne "Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?" habe man viele Betroffene erreichen können. Anonymität sei die wichtigste Voraussetzung, um Vertrauen zu gewinnen. In der Therapie wird versucht, den Betroffenen ihre Neigung und die Folgen für die Opfer bewusst zu machen und ihnen Instrumente in die Hand zu geben, um mögliche Risikosituationen zu vermeiden.
    "Wir nutzen Verhaltenstraining um diese zu beeinflussen, Lösungsstrategien zu erarbeiten, und wir nutzen Medikamente, um Impulse zu reduzieren, wenn sie mit Gefahren verbunden sein können. Und wir verbessern die sozialen Empfangsräume für die Betroffenen. Wir wollen ja diese Vereinsamung auflösen."
    117 Männer haben die Therapie abgeschlossen
    Doch die Überprüfung des langfristigen Erfolgs ist schwierig. An der Charité haben 117 Männer ihre Therapie abgeschlossen. Bei einer ersten Evaluation nach einem Jahr hätten sich 53 der Therapierten zurückgemeldet.
    "Wir sind jetzt angewiesen natürlich auf die Mitteilung der Betroffenen. In der ersten Evaluation waren 53 untersucht worden, die die Therapie abgeschlossen hatten. Von denen hatten fünf einen Übergriff begangen. Die Vergleichsgruppe war höher, aber das ist trotzdem für uns eine betrübliche Erkenntnis gewesen."
    Bei der Nachuntersuchung fünf Jahre nach Therapieende habe man noch 23 Betroffene erreicht, von denen sei keiner rückfällig geworden. Für Beier ist das ein Erfolg.
    "Um das mal zu sagen, das ist weltweit einmalig, wir befinden uns hier im Dunkelfeld. Also das sind ja Dinge die dort ablaufen, in die bisher keiner Einblick hatte. Das heißt, wir können viel verhindern, wenn auch nicht alles, wo vorher gar nichts passiert ist."
    "Oft fängt ganz harmlos an. Du sitzt am PC, fängst an, normale Pornos zu suchen. Dann wird das Schema immer jünger. Die Frauen immer jünger. Die Bilder werden härter. Man gibt "Teen" ein, und schon ist man mittendrin und hat den Point of No Return längst überschritten. Die Kunst ist, dass ich mich so gut kennenlerne, dass ich mich kontrollieren kann, um nicht in solche Situationen zu kommen."
    Pädophilie vielleicht bald als Kassenleistung behandelbar
    Die Finanzierung des Projektes war lange unsicher. Acht Jahre lang wurde das Projekt vom Bundesjustizministerium gefördert, die Nachfinanzierung wird nun vom Gesundheitsministerium übernommen werden. Für fünf Jahre sollen fünf Millionen Euro auch zum Aufbau neuer Therapiezentren eingesetzt werden. Langfristig sollen sich auch die Krankenkassen daran beteiligen. Dies werde zunächst in einem Modellprojekt erprobt werden. Pädophilie könnte dann unter Wahrung der Anonymität als Kassenleistung behandelt werden. Das ist sicher eine gute Nachricht.