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Präsident ohne Staat

Die Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten war groß, als Jassir Arafat 1996 bei den ersten freien Wahlen in Palästina zum Präsidenten gewählt wurde. Zuvor hatten sich Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO im Oslo-Abkommen gegenseitig anerkannt und damit die Tür zu einer neuen Ära aufgestoßen. Doch bis zu seinem Tod 2004 blieb Arafat ein Präsident ohne Staat.

Von Peter Philipp | 20.01.2006
    Das einzig Negative an den Wahlen sei, dass in manchen Wahllokalen die Urnen bereits vier Stunden nach Wahlbeginn gefüllt gewesen seien. Mahmud Abbas, langjähriger Mitstreiter von PLO-Führer Jassir Arafat und an jenem 20. Januar Leiter der Wahlkommission, ist zufrieden mit dem Ablauf der ersten freien Wahlen in Palästina. Obwohl sie noch unter israelischer Besatzung leben, hat sich eine knappe Million für die Wahl eines Präsidenten eingetragen, und rund 900.000 Palästinenser sind wahlberechtigt.

    Ermöglicht wird die Wahl durch das Oslo-Abkommen, dass Israel und die PLO am 13. September 1993 in Washington unterzeichnet haben. Zum ersten Mal haben beide Seiten miteinander verhandelt und einander wenigstens prinzipiell anerkannt. Man glaubt, am Anfang einer neuen Phase von Ruhe und Frieden zu stehen. Und man hat in Artikel 3 des Abkommens bewusst aufgenommen, dass Demokratie und demokratische Wahlen mit dazu gehören. PLO-Chef Arafat bestätigt dies:

    "Dies ist das Ergebnis von dem, was wir getan haben im Rahmen der Vereinbarung. Jetzt ist der Friedensprozess in dieser Wahl gestärkt worden, und wir hoffen, dass wir ihn weiter stärken, um einen umfassenden und dauerhaften Frieden für die ganze Region zu erlangen."

    Seit vielen Jahren leitet Arafat die "Fatah" und die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO, er war bisher aber immer nur von den Gremien dieser Organisationen gewählt worden und nie vom palästinensischen Volk selbst, erst recht nicht in den noch besetzten Gebieten, die nun innerhalb von fünf Jahren weitgehende Selbstständigkeit erlangen sollen.

    Wahlberechtigt sind auch 72 000 Palästinenser im von Israel annektierten Ostteil Jerusalems, und Hunderte von internationalen Beobachtern sind aus aller Welt angereist, um den korrekten Verlauf dieser Wahlen zu überprüfen. Prominentester unter ihnen ist zweifellos der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, der 17 Jahre zuvor den Frieden von Camp David zwischen Israel und Ägypten ermöglicht hatte.

    Es besteht kein Zweifel, wer diese Wahlen gewinnen wird. Aber mehr als nur der Form halber gibt es einen Gegenkandidaten, auch noch eine Frau: die 73-jährige Samira Khalil, eine resolute Vorkämpferin für Frauenrechte und eine entschiedene Gegnerin der israelischen Besatzung. Sie kann nicht gewinnen, aber sie erringt dennoch einen beachtlichen Erfolg.

    "88,8 Prozent für Herrn Arafat und 11,2 Prozent für Frau Khalil…"

    Jimmy Carter ist zufrieden und gratuliert Arafat:

    "Ich finde, gestern war einer der historischen Wendepunkte in der Geschichte Palästinas und des Nahen Osten… Und ich möchte dem neuen Präsidenten für diesen wunderbaren Sieg gratulieren."

    Wer dies nicht miterleben kann, ist Jitzchak Rabin. Der israelische Regierungschef, der das Oslo-Abkommen unterzeichnete, ist wenige Monate zuvor von einem jüdischen Fanatiker ermordet worden. Interim-Premier ist Schimon Peres, auch er war maßgeblich an Oslo beteiligt. Peres befindet sich bereits im Wahlkampf und er hofft, dass die erfolgreiche Wahl bei den Palästinensern ihm dabei nützen und Zweifel an Oslo zerstreuen wird. So meint er bereits vor dem 20. Januar:

    "Ich schätze, dass Arafat gewählt wird, und es wird sehr interessant sein, zu sehen, wie die Palästinenser eine demokratische Gesellschaft aufbauen können. Es gibt viele intelligente Menschen unter ihnen, die das ernsthaft wollen. Aber – wie alles im Leben: Das ist ein Entwicklungsprozess."

    Ähnlich optimistisch, wenn auch schon mit gewissen Einschränkungen, äußert sich Ehud Barak, später einmal Ministerpräsident in Israel:

    "Ich schätze, dass Arafat gewählt wird. Und damit beginnt ein neuer Abschnitt, der einerseits seine Legitimation als gewählter Führer der Palästinenser stärkt und gleichzeitig die Gültigkeit unserer Forderungen ihm gegenüber. Was unsere gegenseitigen Beziehungen betrifft, so werden wir mit Nachdruck die Einstellung des Terrors fordern und die Annullierung der Palästinensischen Charta. Wobei die Annullierung Vorbedingung ist zur Fortsetzung der Verhandlungen."

    Statt Peres wird wenig später in Israel der Likud-Politiker Benjamin Netanjahu gewählt, und unter seiner Regierung wird die weitere Umsetzung von Oslo systematisch verschleppt und torpediert. Auf palästinensischer Seite gibt es keine Fortschritte und der erste Ansatz zu Demokratie gerät in Vergessenheit.

    Präsidentschafts-Neuwahlen werden jedenfalls erst neun Jahre später abgehalten. Mahmud Abbas wird Nachfolger des verstorbenen Jassir Arafat. Und wie dieser wird er ein Präsident ohne Staat, denn Oslo ist inzwischen längst vergessen.