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Premiere ohne Titel

"Neues Stück 2009" - das ist alles, was der Spielplan des Pina Bausch Theaters verrät über die Uraufführung, die in der Wuppertaler Oper über die Bühne ging. Ein Tanzabend ohne Titel das ist bei Pina Bausch meistens ein Hinweis darauf, dass sie an dem Stück auch nach der Uraufführung noch weiterarbeiten will.

Von Wiebke Hüster | 13.06.2009
    Wie viele Jahre lang hat man nicht schon das Gefühl, ein Stück von Pina Bausch sehe aus wie das andere. Und alle seien sie längst nicht so gut - so unterhaltsam, so phantasievoll, so bitter, so tiefgründig, so gesellschaftskritisch, so mann-frau-problematisch aus wie früher? Lange Jahre. Bis gestern. Gestern war alles zum ersten Mal seit langem anders, ein bisschen anders jedenfalls. Aus der Sicht der ältesten, jahrzehntelangen Verehrer vielleicht sogar sehr anders.

    Da war zunächst die Bühne. Es gab keine Dekorationen. Keine riesiges gestrandetes Schiff, keine Felsen, keinen Teich, keinen Torf, keine Nelken. Stattdessen nur einen weißen Boden und schwarze Aushänge - die ersten 60 Minuten bis zur Pause keine einzige Filmeinspielung überbordender subtropischer Vegetation, keine einzige Projektion von Schnappschüssen paradiesischer Natur, wie Pina Bausch sie in früheren Koproduktionen mit fernen Ländern gerne eingesetzt hatte. Nur zweimal stehen die Tänzer in der "Uraufführung 2009" - denn wie immer hat das neue Stück von Pina Bausch bei der Premiere noch keinen Titel – nur zweimal stehen die Tänzer in virtueller Landschaft – einmal ein Mann allein in wild fließenden Gewässern, einmal wird das Ensemble in ein dunkles Grau gestellt, das von schwarzen Strichen durchzogen ist als wäre die Bühne ein abstraktes Gemälde. Ab und zu erinnert eine zwar unmotivierte, aber technisch beeindruckende Verwandlung an die frühere Üppigkeit. Mehrmals lässt der Bühnenbildner Peter Pabst den Boden in unregelmäßig gezackten Teilen auseinanderfahren wie riesige Schollen von Packeis.

    Doch stärker noch als von der ungewohnten Schlichtheit war die Atmosphäre des Abends geprägt durch Besetzungsentscheidungen. Zum ersten Mal stand mit Dominique Mercy nur noch ein einziger Tänzer der ersten Stunde mit auf der Bühne. Und mit den letzten Diven siebziger und achtziger Jahre scheinen sich auch alle alten Geister mit aus den Gassen und Garderoben des Wuppertaler Opernhauses verflüchtigt zu haben.

    Die jungen Tänzer – allen voran Clémentine Déluy und Ales Cucek – gehen auf eine schon beinahe rücksichtslos persönliche Art virtuos mit dem Bewegungsmaterial von Pina Bausch um. Es gehört ihnen, basta. Wie, hier hat einmal Lutz Förster gestanden, Jan Minarek mit Mechthild Grossmann geflirtet, Nazareth Panadero ihr Publikum gerührt? Das war gestern. Deluy und Cicek beweisen, dass man bei der Bausch auch ungezähmt, eigenwillig, aggressiv tanzen kann – und nicht nur schön-schön, elegisch, leidend, händeflatternd und haareschüttelnd.

    Neben der Abstraktion der Bühne und der neuen Unbekümmertheit der Tänzer wirkt das ganze Stück aber auch wie dramaturgisch befreit. Weitgehend bleiben die faden Sketche und albernen gespielten Witzchen der letzten Jahre außen vor. Bis auf wenige, mal mehr mal minder komische Aufsager an der Rampe und eine Szene, in der die Frauen leere Weinflaschen umhertragen und die Männer Korken spucken, aber ohne den Esprit eines Champagners, kommt nichts anekdotisches, nacherzählbares mehr vor. Bravo.

    Ein mutiger Schritt hin zum fließenden Reigen gegenstandloser, nurmehr der Musik und den Bewegungseinfällen folgender Tänze. Es liegt nahe, darin die Faszination des alternden Künstlers für die Reduktion entdecken zu wollen.

    Und wo kam Chile vor, diesjähriges Gastland für den schon traditionellen dreiwöchigen Arbeitsaufenthalt des Wuppertaler Tanztheaters? In der samtenen pop-chanson-weichen musikalischen Collage vor allem, in den traurigen Liebes- und Problemliedern von Victor Jarra oder Violeta Parra etwa. Und in einigen wenigen Szenen zu Anfang des Stücks, mit denen man Folter, Verschleppung assoziieren kann oder sogar, später im Stück, die anonyme Verscharrung toter Gefangener unter Pinochets Regime.

    Am Anfang kniet Silvia Farias Heredia im weißen Hemd im Vierfüßlerstand auf der Bühne, wenn immer wieder zwei Männer kommen und sie in dieser Haltung wegtragen, umsetzen wie einen Gegenstand, während sie wie innerlich abwesend rhythmisch entsetzliche Schreie ausstößt.

    Vieles war anders, endlich, endlich. Aber vieles war leider auch das Immergleiche: Marion Citos Flatterkleidchen und ihre grässlichen Stöckelschuhe, zu viele Handküsse und andere Albernheiten. sowie zu viele Niedlichkeiten von Ditta Miranda Jasjfi. An alle anderen vierzehn Tänzer wird man sich um ihrer selbst erinnern. Pina Bausch ermöglicht es ihnen im neuen Stück, im Tanz zu sich selbst zu kommen. Dabei zuzusehen, ist ein unerhört seltenes Erlebnis.