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Private Pflegedienste
Berlin geht gegen Betrüger vor

Allein durch Pflegebetrug entsteht dem Land Berlin jährlich ein Schaden von 50 Millionen Euro. Bundesweit könnten es sogar zwei Milliarden Euro sein. Zahlen muss das der Steuerzahler. Das Bundesland Berlin will das nicht länger hinnehmen und sagt Pflegebetrügern ab sofort den Kampf an.

Von Anja Nehls | 30.03.2015
    Ein Rollstuhl steht zusammengeklappt in einem Hausflur.
    Ein Rollstuhl steht zusammengeklappt in einem Hausflur. (picture alliance / dpa / Oliver Killig)
    Ein gebürtiger Russe singt und tanzt auf einer Bühne in Berlin. Das Video dazu fand eine Mitarbeiterin des Sozialamts im Berliner Bezirk Mitte im Internet – und wunderte sich. Denn eigentlich ist der ältere Herr ein Pflegefall, sagt der zuständige Sozialstadtart Stephan von Dassel:
    "Er hat ganz schwere physische und psychische Einschränkungen. Er ist orientierungslos, depressiv, dement, inkontinent, kann kaum laufen, immer mit Rollstuhl, mindestens Rollator, versteht kein Wort, spricht russisch, der Mann ist durch und durch krank."
    So könnte er es dem Pflegedienst vorgegaukelt haben, oder sich gar mit dem Pflegedienst zusammen getan haben – wie es von Dassel für wahrscheinlich hält. Mitunter wird auch der medizinische Dienst der Krankenkasse getäuscht, wenn es um die Beantragung einer Pflegestufe geht oder der Hilfe-Ermittler vom Sozialamt, wenn es um Hilfen für Sozialhilfeempfänger geht.
    "Es spielen alle mit"
    Wenn alle mit denen der Pflegebedürftige Kontakt hat, aus demselben ethnisch geschlossenen Milieu stammen, sei Betrug kein Problem. Die Anzahl russischer Pflegdienste in Mitte steigt von Jahr zu Jahr. 80 Prozent von ihnen betrügen nachweislich, so von Dassel. Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion seien siebenmal so häufig pflegebedürftig als andere, aber im Durchschnitt zehn Jahre jünger:
    "Es spielen alle mit. Arzt und Ärztin, der Pflegedienst, die Dienstleistungen außen herum, die Angehörigen und auch die Betreuerinnen, und das sagt eben schon, man kommt so schwer ran und es ist so schwer, hier auch kriminelles Handeln auch gerichtsfest zu beweisen."
    Inzwischen ermittelt die Polizei berlinweit gegen jeden vierten Pflegedienst, fast ausschließlich gegen die privaten. Zur Anklage kommt es selten, denn dass die Pflegdienste den Betrug inszeniert haben, ist selten nachzuweisen. Schuld sei entweder der Pflegebedürftige selber oder der Pfleger, der Inhaber des Pflegedienstes jedenfalls nicht:
    "Die sind knallhart, die werfen die Leute sofort raus, mahnen sie ab, dann kriegen sie ein Schweigegeld von zehn bis 20.000 Euro, die Beschäftigten, damit sie auch wirklich die Klappe halten und fünf Wochen später sind sie beim nächsten Pflegedienst ja auch wieder angestellt."
    Der Steuerzahler zahlt
    Den Pflegebetrug zahlt der Steuerzahler. Leidtragende sind die Pflegekassen und in noch viel stärkerem Maße die Sozialämter, weil vor allem Sozialhilfeempfänger in den Betrug verstrickt sind.
    Gabriele Rähse von der AOK fordert Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die sich auf das komplizierte Gesundheitssystem spezialisieren, damit derartige Delikte besser verfolgt und geahndet werden können:
    "Da gehen Gelder der Versichertengemeinschaft verloren, die in der Krankheitsversorgung, in der Pflege benötigt werden und insofern kann man hier nicht von harmlosen Ordnungswidrigkeiten sprechen."
    Die Missbrauchsbekämpfungsstellen bei den Krankenkassen gehen den Fällen nach und stellen gegebenenfalls Strafanzeige. Bezirksämter und Pflegekassen kooperieren. Von den Berufsverbänden der Pflegedienste würde man sich allerdings etwas mehr Hilfe erhoffen, so Gabriele Rähse.
    Bessere Kontrolle
    Um Missbrauch zu entdecken, müssten die Pflegedienste ihre Arbeit noch besser dokumentieren. Aber das macht zuviel Arbeit und stiehlt die Zeit, die die Pflegekräfte eigentlich für die Pflege brauchen, sagt Hubert Roeser vom Bundesverband ambulanter Dienste. Er hat keine Idee, wie sein Verband schwarze Schafe in den eigenen Reihen identifizieren könnte:
    "Wir sind nicht in der Lage, Unternehmen, die kriminell arbeiten, zu sanktionieren. Wir haben russischsprachige Unternehmen in unserem Verband. Wenn uns natürlich dargelegt werden würde, dass irgendein Unternehmen nicht ordnungsgemäß arbeitet und sogar kriminell arbeitet, dann würden wir uns natürlich verbandsrechtlich alle Schritte vorbehalten."
    Hinschauen, nicht wegschauen – das ist das Rezept von Stephan von Dassel. Seit seine Behörde sich im Berliner Bezirk Mitte den Betrug nicht mehr gefallen lässt, nachforscht, nachfragt und eventuell sogar Hausbesuche macht, sind die Ausgaben für die ambulante Hilfe zur Pflege in Mitte um sechs Millionen auf 24 Millionen Euro gesunken. Auch seine Fallzahlen sind zurückgegangen – von 3.000 auf 2.600 Pflegebedürftige, obwohl die Menschen immer älter werden.
    Gleichzeitig werden immer mehr Pflegedienste gegründet. Um die lukrativen Pflegebedürftigen wird hart gekämpft, zum Teil schon auf den Fluren der Krankenhäuser, zum Teil durch Klingeln an der Tür.
    Allein durch Pflegebetrug entsteht dem Land Berlin jährlich ein Schaden von 50 Millionen Euro, schätzt von Dassel, bundesweit könnten es sogar zwei Milliarden sein.