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Privatsphäre 2.0

Soziale Netzwerke wie Facebook erfreuen sich konstanter Beliebtheit. Doch die Grenze zwischen nützlicher Anwendung und Missbrauch ist hauchdünn. Zwei Bücher zum kritischen Umgang mit dem Web 2.0.

Von Sabine Pamperrien | 28.11.2011
    Die Lektüre von "Zeitbombe Internet" lohnt sich auf ganz besondere Weise. Manchem Leser dürfte richtig schlecht werden. Hoffentlich, vielen wird aber auch das ein oder andere Licht aufgehen. Die beiden Zeit-Journalisten Thomas Fischermann und Götz Hamann haben sich umfassend mit den Sicherheitslücken des Internet beschäftigt. Zahlreiche Interviews mit renommierten Experten im In- und Ausland ergänzen die Recherchen Um Datenschutz, Facebook und Google geht es, insbesondere aber um die Cyber-Kriminalität. Bestseller-verdächtige legen die Autoren Gefahrenherde bloß.

    Die Grenze zwischen nützlicher Anwendung und Missbrauch ist hauchdünn. Es ist die gleiche Technik für gut und böse. Sie meldet unseren Freunden, wann sie uns zuhause antreffen können, und Dieben, wann nicht. Unternehmen können Einblicke in unser Privatleben nehmen, machen unser Leben reicher und angenehmer – und spähen uns dabei aus.

    Die Gefahren drohen nicht nur bei Online-Banking und der Preisgabe anderer persönlicher Informationen. Schadsoftware hat weltweit Millionen Computer infiziert und lässt sich von professionellen Kriminellen je nach Bedarf aktivieren. Experten fanden schon Software, die sich harmlos stellen konnte, wenn sie als Eindringling entdeckt wurde. Denkbar seien Szenarien, in denen etwa ganze Flugzeugflotten in der Luft zum Ablassen des Treibstoffs manipuliert werden könnten. Das Internet leide unter einem Konstruktionsfehler, so die Autoren. Seine offene Struktur sei für die aktuelle Nutzung überhaupt nicht gedacht gewesen.

    Eine wachsende Zahl unabhängiger Experten und Wissenschaftler sagt inzwischen: Das Internet, so wie es heute konstruiert ist, hat seine besten Zeiten hinter sich. Ein neues Netz muss her.

    Führende Informatiker aus den USA und Europa fordern, so die Autoren, dass wichtige Einrichtungen wie Kraftwerke oder Verkehrssysteme, die katastrophale Unglücke auslösen könnten, entnetzt werden müssten. Was die beiden Journalisten an nachgewiesenen Cyberattacken auflisten, ist tatsächlich höchst beunruhigend. Längst haben sich Verbrecher in internationale Börsen gehackt und Schäden in mehrstelliger Millionenhöhe verursacht, bevor die Manipulationen auffielen. Geheimdiensten gelang es, unbemerkt die Produktionsprozesse für die Urananreicherung im Iran zu stören. Was auf den ersten Blick wie ein großartiger Erfolg wirkt, belege tatsächlich das extreme Gefährdungspotenzial. Erpresser hätten schon Millionen Beute gemacht, als sie mit der Auslösung entsprechender Großunfälle drohten. Bisher operierten die Verbrecher im Internet mindestens so professionell wie ihre Verfolger. Die Autoren:

    Sämtliche heutzutage eingesetzten Schutzmechanismen – Virenscanner, Firewalls, trickreiche Verschlüsselungstechniken, doppelte und dreifache Absicherungen bei den Onlineshops und Onlinebanken – erweisen sich bisher als unzureichend. Sie funktionieren nicht gut genug. In einer kürzlich erschienenen Szenarienstudie halten sogar die Marktforscher des optimistischen Internetriesen Cisco eine düstere Zukunft für möglich.

    Sicherheitsexperten wie der ehemalige Hacker und heutige Microsoft-Berater Adam Shostack werden mit ihrem Spott über die gängigen Sicherheitsprodukte zitiert: "Sicherheitstheater". Die vermeintliche Sicherheit verführe die Benutzer zum Leichtsinn, so die Autoren. Eine Folge: Das Geschäft mit dem Online-Betrug floriert. Allein von 2009 bis 2010 stieg die Internet Kriminalität in Deutschland um zweihundert Prozent. Laut einer Online-Umfrage aus dem Jahr 2010 seien 15 Prozent der deutschen Internetnutzer innerhalb eines Jahres Opfer eines Onlinebetrugs geworden. Tendenz: Deutlich steigend. Die Autoren:

    Es gibt jetzt genügend Warnzeichen. Irgendwer müsste anfangen, unseren Umgang mit der brüchigen Infrastruktur namens Internet grundsätzlich zu überdenken. Allen voran sollten die Banken das tun. Oder Microsoft. Oder Regierungen. Oder die großen Konzerne dieser Welt, gemeinsam. In Wirklichkeit passiert das Gegenteil. Die Konstruktionsprinzipien des Internet bleiben unverändert. Gerade werden noch viel, viel mehr Menschen und Dinge daran angeschlossen.

    In Europa sollen, so will es ein Beschluss der EU-Kommission, bis 2022 alle Stromzähler an das Internet angeschlossen sein. 30.000 sind es bereits in Deutschland. Von da bis zum sogenannten Smart Grid ist es nicht weit. Smart Grids sind riesige Computernetz aus Kraftwerken, Stromnetzen, Stromzählern und Haushaltsgeräten. Ziel der intelligenten Netzwerke ist die Senkung des Stromverbrauchs. Kommando: Spüle, wenn gerade viel Wind kommt, zitieren die Autoren einen begeisterten Entwickler. Schöne neue Welt. Wären da nur nicht die Sicherheitslücken.

    Das Knacken von Stromablesegeräten gilt bei Hackertreffen neuerdings als eine Art Spitzensport.

    Smart Grids wurden in den Vereinigten Staaten im Großversuch schon gehackt. Dass dabei kostenlose Stromversorgung das Ziel war, hat zumindest einen gewissen Charme. Fischermann und Hamann gelingt es in leicht schnoddrigem Ton, den Lesern einen vertieften Einblick in die strukturellen Probleme des Internet zu verschaffen. Dass auf 250 Seiten manches etwas verkürzt wird, trübt den Erkenntnisgewinn kaum. Am Ende schließen sich die Autoren den scheinbar drastischen Expertenurteilen an: Sie fordern Entnetzung, Verschärfung von Straftatbeständen und Regulierung. Kurz: Eine aktive Internet-Politik. Das Buch der beiden Juristen Christian Scherz und Dominik Höch nähert sich den Umwälzungen durch das Internet aus einer anderen Perspektive. Die Medienanwälte beschäftigen sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen des zu beobachtenden Verlusts der Privatsphäre. Traditionelle Medien und Internet wirkten hier zusammen, so die Autoren.

    Das Recht auf Privatsphäre ist ein bürgerlicher Wert, auf den sich unsere Gesellschaft vor über zweihundert Jahren geeinigt hat. Verschwindet er, wird unsere Gesellschaft eine andere. Jeder ist öffentlich, noch mit seinen privatesten Angelegenheiten, ein gläserner Mensch, berechenbar im sozialen Umgang und begehrt als Kunde, über den Wirtschaftsunternehmen alles wissen.

    Auch die beiden Prominentenanwälte sehen die offene Struktur des Internet als Gefahr. Es gebe eine falsche Doktrin der Internet-Community, der zufolge die Unbegrenztheit des Internet die Selbstreinigung impliziere. Tatsächlich aber führe der Verlust an Privatsphäre zu einem Demokratie-gefährdenden Konformismus, so die Autoren. Auch sie kommen wie die beiden ZEIT-Journalisten zu dem Schluss, dass die Debatte über die Auswirkungen des Internet überhaupt noch nicht geführt ist. Auch dieses Buch bietet gut verständliche Denkanstöße.

    Thomas Fischermann/ Götz Hamann:
    Zeitbombe Internet: Warum unsere vernetzte Welt immer störanfälliger und gefährlicher wird. Gütersloher Verlagshaus, 255 Seiten, 19,99 Euro,
    ISBN: 978-3-579-06682-0


    Christian Schertz/ Dominik Höch:
    Privat war gestern: Wie Medien und Internet unsere Werte zerstören. Ullstein Hardcover, 256 Seiten, 19,99 Euro,
    ISBN: 978-3-550-08862-9