Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Pro Asyl kritisiert Flüchtlingspolitik Deutschlands

Momentan schaffen es kaum Bootsflüchtlinge nach Europa, sagt Karl Kopp, doch das könne sich ändern. Man könne nicht wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière so tun, als gingen uns Europas Außengrenzen nichts an.

25.02.2011
    Silvia Engels: Gestern berieten die europäischen Innenminister über die Möglichkeiten, dass aufgrund der Unruhe in Nordafrika weitere Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa kommen könnten. Eine Einigung, wie man im Fall der Fälle damit umgehen wird, gab es nicht. Der italienische Außenminister Frattini sprach dabei von einem Exodus biblischen Ausmaßes, der deutsche Innenminister de Maizière warnte dagegen, keine Horrorzahlen an die Wand zu malen. – Gestern Abend fragte meine Kollegin Anne Raith den Europareferenten der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, Karl Kopp, danach, wie er die Lage einschätzt.

    Karl Kopp: Gut, momentan ist es wirklich sehr schwer zu beurteilen, wie es weitergeht, speziell in Libyen. Angesichts des Blutbades dort wissen wir nicht, was morgen geschieht. Also momentan schaffen es kaum Bootsflüchtlinge nach Europa, es sind knapp 6000 Menschen auf Lampedusa angekommen die letzten zwei Wochen, das ist sehr wenig, aber es kann sich verändern. Und was wir uns gewünscht hätten, dass die EU-Innenminister zumindest sich vorbereiten, eine gemeinsame Linie hinbekommen, wie man solidarisch Bootsflüchtlinge aus Nordafrika, aus Libyen aufnimmt.

    Anne Raith: Auf was soll sich Europa denn nun vorbereiten, wenn es so unterschiedliche Eindrücke von der Lage gibt?

    Kopp: Na ja, es ist jetzt bedauerlich, dass jetzt der Sprecher sozusagen der Solidarität innerhalb der Innenministergruppe Maroni ist. Das ist gerade ein Innenminister, der gezeigt hat, wie eng er mit dem blutigen Diktator Gaddafi zusammengearbeitet hat bei der Flüchtlingsabwehr. Deshalb sind die Zahlen in Italien ja so in den Keller gegangen. Da hat unser deutscher Innenminister recht. Aber was bedauerlich ist, dass in der deutschen Debatte oder auch vonseiten des Bundesinnenministers so getan wird, als würde uns das alles nichts angehen, als würde uns diese Außengrenze nichts angehen, was dort passiert, was Italien gemacht hat, und was in Zukunft passiert. Und es wäre jetzt einfach sinnvoll, in Ruhe, besonnen, solidarisch das vorzubereiten für den Fall des Falles, dass nämlich Flüchtlinge, beispielsweise auch Transitflüchtlinge, die in Libyen festsitzen seit geraumer Zeit, die versuchen, über die Nachbarstaaten auszureisen, nach Europa zu kommen, dass man die menschenwürdig aufnimmt.

    Raith: Deutschland argumentiert ja, dass in Deutschland im vergangenen Jahr 41.000 Asylanträge eingegangen sind, in Italien aber nur 6.500. Ist es da nicht erst einmal an Italien, die Flüchtlinge aufzunehmen?

    Kopp: Wir sagen auch, Italien muss ein geregeltes Aufnahmeverfahren installieren. Das haben sie in Lampedusa gezeigt, dass sie nicht bereit waren, da war der politische Wille nicht da. In Italien gibt es die Tendenz, sehr schnell einen Notstand zu konstruieren. Diese Kritik stimmt. Aber dennoch ist es so, dass Europa bis heute nicht in der Lage ist, eine gemeinsame solidarische Flüchtlingsaufnahmepolitik zu organisieren, oder ein gemeinsames Asylsystem, und da kann es nicht sein, dass die Staaten im Norden, auch die Bundesrepublik sich sozusagen der Verantwortung entledigt. Tendenziell weist man die Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme den Südstaaten oder den Außenstaaten zu. Das ist falsch, das führt auch zu diesen sehr brutalen Vorgehensweisen, die beispielsweise Italien oder Griechenland die letzten Jahre gezeigt haben. Wir müssen jetzt ein Umdenken einleiten bei der Flüchtlingsaufnahme, natürlich muss man auch ein Umdenken einleiten überhaupt bei der Nachbarschaftspolitik Richtung Nordafrika, in Richtung junge Demokratien.

    Raith: Aber wie könnte denn überhaupt eine gemeinsame Antwort der EU aussehen, wo der Graben so tief ist zwischen Norden und Süden und ja durch diese Krise noch tiefer zu werden droht?

    Kopp: Man hat jetzt wieder Zeit verloren. Man muss sich wirklich vorbereiten, wenn es nötig ist, dass man Fluchtkorridore in Nordafrika öffnet. Da muss die internationale Gemeinschaft, da muss die EU diesen Nachbarstaaten helfen auch bei der Flüchtlingsaufnahme. Es fliehen ja jetzt stündlich alle Migranten, Flüchtlinge, EU-Bürger aus Libyen beispielsweise. Aber man muss auch an die Flüchtlinge denken, die dort festsitzen, die in einer ganz prekären Situation sind, um ihr nacktes Überleben kämpfen. Und für den Fall, dass Bootsflüchtlinge nach Europa kommen, muss man einmal gewährleisten, dass die Menschenrechtsstandards eingehalten werden. An der Außengrenze darf nicht mehr zurückgewiesen werden, Schiffe dürfen nicht abgedrängt werden, wie es Italien die letzten Jahre gemacht hat. Und dann braucht man ein geregeltes Verfahren im Erstasylland und dann im Zweifelsfalle, wenn die Zahlen hochgehen, eine solidarische Lösung, eine Verteilung nach humanitären Kriterien in Europa. Dafür gibt es Instrumentarien. Wenn sie sich heute nicht einigen, werden sie vielleicht morgen dazu gezwungen sein, nur haben wir wieder Zeit verloren. Das ist bedauerlich. Und solange wir europäische Asylpolitik beobachten, stellen wir immer nur fest, dass die Innenminister uneinig sind bei der Aufnahme, aber sehr einig sind bei der Abwehr, und diese revolutionären Prozesse auf der anderen Seite des Mittelmeers sollten jetzt auch zu einer Abkehr dieses Abwehrgedankens führen. Wir müssen auf ganz verschiedenen Ebenen grundlegend die europäische Flüchtlingspolitik, auch die Nachbarschaftspolitik überdenken, und Solidarität und Menschlichkeit wäre eine Grundvoraussetzung, dass Europa sozusagen einen Glaubwürdigkeitsverlust ansatzweise wieder zurückgewinnt.

    Raith: Herr Kopp, können die europäischen Staaten da überhaupt glaubwürdig Sanktionen fordern, wenn sie auf der anderen Seite nicht bereit sind, die Fliehenden aufzunehmen?

    Kopp: Die europäischen Staaten sind momentan nicht mal dazu in der Lage. Also man muss noch mal kurz daran erinnern, dass bis vor einigen Tagen die europäischen Staaten, die EU, Italien, mit Herrn Gaddafi, mit dem Diktator Gaddafi aufs engste kooperiert haben. Sie haben ihn hofiert. Sie haben sehr große Schuld auf sich geladen. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat geschwiegen zu diesen Menschenrechtsverletzungen, als Italien Tausende von Menschen zurückgeschickt hat. Und jetzt geht es darum, ist Europa bereit, sozusagen einen Kurswechsel einzunehmen. Man hat überhaupt nicht kapiert, dass auf der anderen Seite eine Demokratiebewegung im Gange ist. Man hat viel zu spät reagiert, man hat viel zu lange diesen Machthabern die Stange gehalten. Und jetzt geht es auf allen Ebenen darum, ob man die Konsequenz aus diesen Fehleinschätzungen, dieser fehlgeleiteten Politik zieht, und ein Aspekt, ein Lackmustest wäre die menschenwürdige und solidarische Aufnahme von neu ankommenden Bootsflüchtlingen aus Nordafrika.

    Engels: Meine Kollegin Anne Raith im Gespräch mit dem Europareferenten der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, Karl Kopp.