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Problemschulen
Kinderträume wider die Realität

Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, dazu sollen die Schulen der Französischen Republik erziehen. Doch die Realität sieht vor allem für Schüler in der Banlieues, den Armenvierteln, anders aus. In Saint-Denis nördlich von Paris sind die Schulen groß und personell schlecht ausgestattet - die Träume vieler Schüler werden sich hier vermutlich nicht erfüllen.

Von Stephanie Lob | 10.04.2017
    Zwei Schülerinnen am Alfred Nobel Gymnasium im Pariser Vorort Clichy Sous Bois. 2009. Zwei Silhouetten vor einem hohen Zaun, im Hintergrund ein runtergekommener Plattenbau.
    Zwei Schülerinnen am Alfred Nobel Gymnasium im Pariser Vorort Clichy Sous Bois. (imago /ecomedia / Robert Fishman)
    Vor dem Tor der Pasteur-Grundschule in Saint-Denis nördlich von Paris. Mohamed, Marie und Elise warten auf ihre Eltern. Die Zehnjährigen haben hochfliegende Pläne: Ich will Arzt werden, sagt Mohamed. Marie träumt von einer Karriere als Anwältin oder Ingenieurin. Und Elise will Lehrerin werden. Glauben die Kinder denn, das klappt?
    "Oui!"
    Auch Alina Louanem steht vor dem Schultor und wartet auf ihre Söhne. Sie sieht die Zukunft ihrer beiden Kinder deutlich weniger rosig. Sie sagt, das liege an den schlechten Bedingungen an dieser Schule direkt neben der Cité, der Hochhaussiedlung:
    "Viele Lehrer fehlen, oft gibt es keinen Ersatz. Die Kinder haben Rückstand bei ihrem Stoff. Das müssen sie aufholen, denn sie sollen danach ja aufs Collège gehen, auf die Mittelschule. Wir hören viel von Hilfe, aber in der Realität sehen wir nichts davon."
    Eltern wollen sich mit den Zuständen nicht abfinden
    Mounir Othman hat ebenfalls zwei Kinder auf der Pasteur-Schule. Er wollte sich mit den Zuständen nicht abfinden und hat vor zwei Jahren eine Eltern-Protestgruppe mitgegründet.
    "Manchmal haben wir die Eingänge der Schule bis zu zwei Wochen lang blockiert, um auf den Mangel an Geld und Personal aufmerksam zu machen. Wir wollen den Verantwortlichen für das Bildungssystem sagen: So geht es nicht weiter, wir lehnen diese unzureichende Schule ab, wir boykottieren diese Schule."
    Mal fehle der Mathelehrer, mal falle der Französischunterricht aus, sagt Mounir Othman. Innerhalb eines Jahres habe seine achtjährige Tochter so insgesamt einen Monat Unterricht verpasst.
    Der Lehrer Alain Dupont kennt die Klagen der Eltern. Dupont ist ein Pseudonym, und auch den Namen seiner Schule will er lieber nicht nennen. Die Schulaufsicht sehe es nicht gerne, wenn Lehrer mit Journalisten über Probleme redeten, so Dupont.
    "Es ist viel schwerer, im Leben Erfolg zu haben, wenn man aus Saint-Denis kommt oder aus einer anderen Banlieue. Es ist nicht unmöglich, aber man startet mit einem Handicap. Darüber reden wir auch mit den Schülern: Ihnen muss bewusst werden, dass sie sich doppelt so viel anstrengen müssen."
    Mehr anstrengen müssten sich eigentlich auch die Behörden. Denn für Problembezirke wie Saint-Denis gibt es schon seit den 80er-Jahren Sonderregeln. Unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand wurden Zonen der éducation prioritaire, also der vorrangigen Bildung, geschaffen. Unter der Regierung von François Hollande wurden sie ausgebaut.
    Im Klartext, sagt der Lehrer, dürften damit die Klassen nicht mehr als 23 Schüler haben. Zudem seien Sonderlehrer und Sozialarbeiter vorgeschrieben, um die Kinder besser betreuen zu können. Die Realität sehe aber anders aus:
    "Da, wo ich arbeite, gibt es einen Sonderlehrer für tausend Schüler, die auf die Grundschule und das angeschlossene Collège gehen. Wir haben keinen Sozialarbeiter. Und es gibt nur eine Psychologin. Es fehlt Personal, um Schülern in Schwierigkeiten zu helfen."
    Lange Wunschliste zur Präsidentschaftswahl
    Duponts Wunschliste an die Politiker kurz vor der Präsidentschaftswahl ist deshalb lang:
    "Das Problem ist die Armut. Für eine gerechte Schule müsste es mehr soziale Gerechtigkeit geben. Dann bräuchten wir kleinere Schulen, denn in Saint-Denis gibt es sehr viele große Schulen mit sehr vielen Schülern. Und natürlich mehr Zugang zur Kultur, mehr Betreuung außerhalb der Schule."
    Der Vater Mounir Othman spricht sogar von einer politisch gewollten Segregation, also einer Trennung zwischen Reich und Arm.
    "Für unsere Schüler führt die Schule nicht zum Erfolg. Der letzte Pisa-Bericht hat es gezeigt: Die französische Schule ist gut für die Kinder der reichsten Familien. Für Kinder in Schwierigkeiten funktioniert das System jedoch nicht. Das muss von der Politik dringend geändert werden."
    Auch in seiner Arbeit mit Schülern am Theater sehe er, wozu die ungerechte Schulpolitik führe, sagt Mounir Othman. Denn spätestens auf der Mittelschule werde den Kindern bewusst, dass sie niemals Arzt oder Anwältin werden könnten.
    "Mit 14 oder 15 Jahren sehen sie schon die Mauer vor sich. Diese Mauer müssen wir sprengen, um ihnen den Horizont zu öffnen."