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Prosa, Party, Pop-Kultur

Provinz, das bedeutet nicht zwangsläufig Ödnis, sondern häufig kulturelle Vielfalt - wie man es derzeit in Hildesheim bei der "Prosanova" erleben kann, einem Festival für die jüngste deutsche Literatur. Dort feiern, tanzen und lesen Dichter und Dichterinnen, die noch längst nicht etabliert sind.

Von Michael Braun | 28.05.2005
    Es sieht so aus, als sei sie buchstäblich auferstanden aus Ruinen, die so genannte junge Literatur. Gerade eben noch hatte man die Pop-Literatur zu Grabe getragen und sich pessimistisch in einer "Debütantendämmerung" eingerichtet.

    Jetzt haben einige findige Jungautoren ein abbruchreifes Möbelhaus im niedersächsischen Hildesheim zur zentralen Denkfabrik der jungen Schriftstellergeneration umgerüstet. Dieser Ruinencharme liefert die Bühne für "Prosanova", das landesweit erste große Festival für junge Literatur, vorbereitet von Literaturstudenten, die an der Universität Hildesheim ein veritables Schriftsteller-Diplom anstreben.

    Einige traurige Geranien schmücken den Eingangsbereich des nur notdürftig sanierten Möbelhauses. Die leere Halle hat man mit ausrangierten Sitzmöbeln, Tischtennisplatten und Tischfußballkästen bestückt, um den Geselligkeitswert der Veranstaltung dramatisch zu erhöhen. An den Fenstern kleben Werbelogos mit allerlei animierenden Parolen, die offenbar als Appetizer dienen. Da heißt es dann: "Bechern mit Bastian", "Tanzen mit Thomas" oder "Tischtennis mit Terezia".

    Bastian Böttcher, Thomas Meinecke und Terezia Mora, die mit diesen Motti aufgerufen werden, sind so etwas wie die publikumswirksamen Stars dieser Veranstaltung, die mit über 50 Autoren tatsächlich die Stimmenvielfalt innerhalb der jungen Literatur abbildet. Der hübsche Cocktail aus Clubatmosphäre, Party und Literatur vermag indes auch Menschen jenseits der Vierzig anzulocken, wenn man die Tendenz zur allseitigen Fraternisierung, Duzbrüderschaft und Kumpanei zu akzeptieren vermag.

    Thomas Klupp, einer der rührigen Aktivisten von "Prosanova", verteidigt aber das Geselligkeitsprogramm als Lockmittel für Literatur:

    " Vor allem ist es eben so: Das, was Sie ansprechen, ist in gewisser Weise auch Eventisierung von Literatur. Und das ist, glaube ich, ein ganz schmaler Grat, auf dem man da geht. Man muss ja sagen, auf der Party tanzen 400 Leute, in den Lesungen sitzen 120. Ist da das Verhältnis noch richtig? Ich glaube, dass es richtig ist – weil trotzdem noch ne ganze Menge von Leuten noch was mitkriegen, wo sie sonst eher daran vorbei gehen und dann trotzdem dableiben. Und das ist eigentlich ne Vermittlungsform, die einfach drauf setzt: Wir schaffen hier ein kollektives Erlebnis – und das verbinden wir mit Literatur. Und Literatur ist eigentlich der Kern dieses kollektiven Erlebnisses, macht das möglich. Das ist die Idee, das ist etwas populär, aber zu diesem Populären stehen wir – und das war der Ansatz auch. "

    Kann sich Literatur in dieser Clubatmosphäre behaupten, ohne zur intellektuellen Geräuschkulisse für Partygänger zu schrumpfen? Man darf skeptisch bleiben angesichts von literarischen Neutönern wie Jörg Albrecht oder Kevin Vennemann, die ihr zweifellos vorhandenes Talent zum literarischen Satzbau durch ihre Hochgeschwindigkeits-Rezitation ungenießbar machten. Einigen Anlass zum Staunen gab auch die gerade 20jährige Susanne Heinrich, die trotz einer eher schlichten Erzählprosa die erfahrene Künstlerin gab.

    Die junge Literatur, so betonte Susanne Heinrich, lasse sich das Pubertär-Sein nicht austreiben. Aber trotz allem rührenden Schwelgen in pazifizierender Geselligkeit kann die Literatur bei "Prosanova" auch ihre ureigenen Sogkräfte entfalten. Dass Wörter auch einen Körper haben, eine sinnliche Materialität und semantische Polyphonie – das demonstrierte die Lesung der Lyrikerinnen Anja Utler und Uljana Wolf oder streckenweise das von Raphael Urweider, Kim Oetliker und Ted Gaier improvisierte Live-Hörspiel.
    Eine der schönsten Szenen des Festivals lieferte der Literaturstudent Florian Kessler, als er sich zu einer wunderbaren Liebeserklärung an die Autoren hinreißen ließ. Der Blick auf die literarische Gegenwart sei beim "Prosanova"-Festival nicht die Angelegenheit "gut situierter Experten", die als "kühle Zergliederer" das Terrain distanziert sondieren, sondern eine Angelegenheit von Begeisterten. Tatsächlich verfügen die jungen Literatur-Bewunderer in Hildesheim noch über Ressourcen, die abgeklärten Feuilletonisten längst abhanden gekommen sind: nämlich über Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit.