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Prosa und Skripte von James Agee aus den 1930ern
"Dann werden sie großartig und tragisch und schön"

Zusammen mit dem Fotografen Walker Evans schrieb James Agee im Sommer 1936 eine Reportage über die Baumwollarbeiter in Alabama. Doch niemand wollte sie haben. Beeinflusst von Whitman und Faulkner, machte Agee dann ein Buch daraus, das zu einem Hauptwerk der amerikanischen Moderne avancierte. Nun erscheinen kürzere Texte des Autors aus den Dreißigerjahren.

Von Mathias Schnitzler | 01.04.2016
    Armut und Depression in Amerika: Ein Foto von Walker Evans aus den 1930er-Jahren
    Armut und Depression in Amerika: Ein Foto von Walker Evans aus den 1930er-Jahren (Copyright: imago/United Archives International)
    Müsste man einen Autor erfinden, der die Idee des amerikanischen Schriftstellers typisch und zugleich höchst individuell verkörpert, käme er vielleicht James Agee ziemlich nahe. Agee sah wild und melancholisch aus, hatte trotz legendär nachlässiger Kleidung Erfolg bei Frauen und war auf der Flucht vor der wohlerzogenen, geldgeprägten Kultur. Immer auf der Suche, immer voller Pläne lebte der in Tennessee geborene Alkoholiker und Kettenraucher selbstzerstörerisch und starb 1955 an Herzversagen in einem New Yorker Taxi, mit 45 Jahren.
    Seine Brötchen als Journalist in Manhattan verdienend entwickelte sich Agees literarische Karriere vielversprechend, blieb aber zeitlebens unerfüllt. Erst postum erlangte er Berühmtheit. Agee war sozial engagiert und politisch links, las aber Proust, Joyce und Céline. Die Form- und Sprachexperimente der Avantgarde – egal welcher politischen Couleur – dürften von der Linken nicht ignoriert werden, glaubte Agee. Vor allem aber war er Romantiker, auf der Suche nach neuen Wirklichkeiten und transzendenter Schönheit in einer faden, gewöhnlichen Welt.
    "Und wenn diese kurzsichtigen Menschen, die so sehr auf ihre täglichen Pflichten bedacht sind, auf Nahrung, auf Ruhe oder auf ihre kleinen Lieben, kleinen Grausamkeiten, kleinen Ziele; wenn man sie, die so sehr zwischen winzigen unentrinnbaren Rädchen gefangen sind, im Hinblick auf ihren unverwirklichten Bezug zur zeitlosen Trennung von dem ungeheuren Leuchten des Lebens und dem gewaltigen Schatten des Todes näher betrachtet, dann werden sie großartig und tragisch und schön."
    Das Da- und Sosein der Baumwollarbeiter
    Im Sommer 1936, während der Großen Depression, lebten Agee und der Fotograf Walker Evans für acht Wochen unter armen Erntearbeiterfamilien in Alabama. Sie hatten den Auftrag für eine Reportage, die nach Fertigstellung abgelehnt wurde. Die Kritik richtete sich gegen Agees ausufernden, ins Poetische und Metaphysische kippenden, mit selbstreflexiven Zweifeln am Job des Reporters durchzogenen Stil. Agee schrieb trotzdem weiter und widmete sich der Existenz der Baumwollarbeiter, die ihm in ihrem puren Da- und Sosein fast wie etwas Heiliges erschien, zornig über deren ökonomische und gesellschaftliche Ausbeutung.
    Beeinflusst von Whitman und Faulkner, dokumentarische Formen aufnehmend und problematisierend, machte Agee ein Buch daraus. "Let us now praise famous men" erschien 1941. Erst 1989 erfolgte die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Preisen will ich die großen Männer". Die im Band präsentierten Fotos von Evans wurden unabhängig vom Text berühmt, das Buch selbst verkaufte sich nur 600 Mal. Heute gilt es als ein Hauptwerk der amerikanischen Moderne.
    Wer es gelesen hat, will unbedingt mehr erfahren über Agee und seine künstlerische Arbeit. Gut, dass der diaphanes Verlag nun eine Auswahl mit kürzeren Texten des Autors vorgelegt hat: "Da mir nun bewusst wird. Prosa, Skripte, Projekte." Bis auf eine Ausnahme sind alle Texte erstmals ins Deutsche übertragen, die meisten stammen aus den Dreißigerjahren.
    Umwerfende Beobachtungsgabe
    Der Band beginnt mit frühen Short Stories, die Agee am Anfang seines Schreibens zeigen. Sie bleiben kaum in Erinnerung, die Plots sind etwas fade, es fehlt an Dichte und Spannung. Doch deutet sich bereits an, was einmal Agees große Stärke sein wird: eine umwerfende Beobachtungsgabe, die nicht am Gegenstand haften bleibt, sondern langsam davondriftet und in andere Sphären taucht.
    Beeindruckend sind Agees Reisenotizen, die Filmskizzen und Drehbuchentwürfe. Während es oft ermüdet, Filmskripte zu lesen, ist es bei Agee umgekehrt. Seine Kraft der visuellen Darstellung ist so gewaltig, dass es gar keine Verfilmung braucht; man hat die Bilder beim Lesen direkt vor Augen. Agee gilt übrigens bis heute als einer der größten Filmkritiker Amerikas und hat die Drehbücher für die Klassiker "African Queen" und "Die Nacht des Jägers" geschrieben.
    Was Agee für die Zukunft geplant hatte und welche Bandbreite seine künstlerischen Pläne umfassten, erfahren wir aus einem Dokument mit dem Titel "Projekte; Oktober 1937." Der Autor hatte es mit einem Stipendienantrag bei der Guggenheim Foundation eingereicht. 47 Projekte, die später detailliert beschrieben werden, sind dort aufgelistet:
    Eine neuartige Bühnen-Leinwand-Show.
    Ein Cabaret.
    Wochenschau. Filmtheater.
    Antikommunistisches Manifest.
    Drei bis vier Liebesgeschichten.
    Eine neue Art Sexbuch.
    "Glamour-Literatur".
    Eine Studie zur Pathologie der "Faulheit".
    Auch eine "Show zur Mutterschaft" war geplant, diverse Filmideen, moderne prophetische Schriften und über 30 weitere Vorhaben. Agees Antrag wurde abgelehnt. Zu den aufgeführten Projekten hatte auch ein autobiographischer Roman gehört, den der Autor unvollendet hinterlassen sollte: "Ein Tod in der Familie". 1957 erhielt Agee dafür postum den Pulitzer-Preis.
    James Agee: Da mir nun bewusst wird
    Prosa, Skripte, Projekte
    Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf
    diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2015, 240 Seiten, 22,95 Euro