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Protestantismus in Argentinien
"Mythos Luther" im Papstland

Im mehrheitlich katholischen Argentinien haben die älteren evangelischen Kirchen ähnliche Probleme wie die deutschen Kirchen: Sie verlieren Mitglieder, auch wegen der Konkurrenz aus den eigenen Reihen. Evangelikale Kirchen werden immer beliebter. Doch alle Protestanten hoffen auf neuen Schwung durch das Reformationsjubiläum.

Von Victoria Eglau | 05.01.2017
    Iglesia Evangélica del Río de la Plata, die Evangelischen Kirche am La Plata im Zentrum von Buenos Aires in Argentinien - mit einem Baugerüst
    Nicht nur die Evangelische Kirche am La Plata, auch andere protestantische Kirchen in Argentinien kämpfen heute mit sinkenden Mitgliederzahlen (Deutschlandfunk / Victoria Eglau)
    Abendmahls-Gottesdienst in einer protestantischen Kirche in der argentinischen Großstadt Rosario. Ein Teller mit Oblaten wandert von Hand zu Hand, der Kirchenchor begleitet die Feier musikalisch. Die Gemeinde gehört zur Iglesia Evangélica del Río de la Plata – der Evangelischen Kirche am La Plata. Mit 35 Gemeinden und gut 40.000 mehr oder weniger aktiven Mitgliedern ist sie eine der größten protestantischen Kirchen im mehrheitlich katholischen Argentinien.
    Gegründet wurde die La Plata-Kirche Ende des neunzehnten Jahrhunderts von deutschsprachigen Einwanderern. Bis heute pflegt sie enge Beziehungen zur Evangelischen Kirche in Deutschland und erhält von ihr ein Drittel ihres Etats – der Rest wird durch Spenden finanziert. In einigen ländlichen Regionen ist die Evangelische Kirche am La Plata fest verankert. In den Städten steht sie jedoch vor neuen Herausforderungen.
    "Heute ist unsere Aufgabe, neue Mitglieder zu gewinnen", sagt ihr Präsident, Pastor Carlos Duarte. "Dabei steht nicht mehr die Identifikation mit deutschen Traditionen im Vordergrund, sondern die Vermittlung der evangelischen Botschaft. In Zeiten sinkender Geburtenraten erhalten sich unsere Gemeinden in den Städten nicht von selbst. Unsere Kirche muss lernen, aktiv um Menschen in unserer Nähe zu werben – Missionsarbeit, die viel Zeit kostet."
    Protestanten verlieren Interesse an ihrer Religion
    Nicht nur die Evangelische Kirche am La Plata, auch andere protestantische Kirchen in Argentinien kämpfen heute mit sinkenden Mitgliederzahlen, darunter Methodisten und Presbyterianer. Sie hatten ihre Blütezeit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.
    Die Historikerin Paula Seiguer erklärt: "Zum Teil hängen die Probleme des Protestantismus damit zusammen, dass die Einwanderer, die diese Religion mitbrachten, in katholische Familien eingeheiratet haben, oder dass sie aus anderen Gründen das Interesse an der evangelischen Tradition verloren haben."
    Im Gegensatz zum Schrumpfungsprozess der traditionellen Kirchen steht der Boom der Evangelikalen. Am schnellsten wachsen die neuen Pfingstkirchen – vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten. Von den zehn bis fünfzehn Prozent Protestanten in Argentinien sind die meisten Pfingstkirchler. Hilario Wynarczyk, Soziologe, erklärt das Phänomen:
    "Diese Kirchen bieten eine sehr praktische Religiosität an, die es ihren Mitgliedern ermöglicht, im Glauben Lösungen zu suchen, für Probleme wirtschaftlicher, gesundheitlicher und familiärer Art. Im Gottesdienst haben die Gläubigen die Möglichkeit, lebhaft ihre Gefühle auszudrücken: durch Gesang, lautes Beten und sogar durch Bewegungen des Körpers. Sie erleben ihren Glauben als etwas Unmittelbares, sie glauben an einen realen, konkreten, lebendigen Gott, der positiven Einfluss auf ihren Alltag nimmt."
    Erfolg der Evangelikalen
    Visión de Futuro – Zukunftsvision – heißt eine argentinische Pfingstkirche, die ihren Sitz in einem ehemaligen Kino in Buenos Aires hat. Pastor Omar Cabrera predigt und betet mit Inbrunst – die Gemeinde hängt gebannt an seinen Lippen.
    "Ich glaube, Herr, dass Deine Kraft uns heilt, uns befreit und die Herrschaft des Teufels bricht", ruft der Pastor. Nach seinem mitreißenden Auftritt bringen Helfer einige Kranke auf die Bühne, die beteuern, dass es ihnen jetzt viel besser gehe als vorher.
    "Typisch für die Pfingstbewegung ist eine magische Vision der göttlichen Präsenz im Leben der Menschen. Die Opfer, die die Gläubigen bringen, werden sofort belohnt – durch Wunder in ihrem Alltag", erklärt Protestantismus-Expertin Paula Seiguer. Die evangelikalen Kirchen fungieren zum Teil als Auffangbecken für Menschen mit Problemen – etwa Suchtkranke und Häftlinge. Dieser Mann aus der Kirche Visión de Futuro glaubt fest an die Kraft der Wunder:
    "Seit ich das erste Mal hierher kam, habe ich mich total verändert. Gott befreite mich als erstes von der Angst und dem Schmerz in meinem Leben. Ich fand eine feste, gut bezahlte Arbeit. Und danach segnete mich Gott mit der kleinen Firma, die ich jetzt besitze."
    "Wir sind stolz auf das mutige Handeln Martin Luthers"
    Wo Heilung und Prosperität im Vordergrund stehen, tritt die protestantische Theologie in den Hintergrund. Doch fünfhundert Jahre Reformation seien ein wichtiger Grund zum Feiern, betont Pastor Rubén Proietti, Präsident der Christlichen Allianz Evangelischer Kirchen in Argentinien, der mehrheitlich Pfingstkirchen angehören:
    "Wir sind stolz auf das mutige Handeln Martin Luthers. Wir glauben, dass auch heute noch viele Menschen nach dem Beispiel Luthers mutig und treu die Wahrheit der Bibel verbreiten sollten. Wir, das ganze evangelische Volk, respektieren und schätzen das Erbe Martin Luthers, der die Lehre der Bibel über alles stellte."
    Die älteren und die neuen evangelischen Kirchen Argentiniens wollen der Reformation 2017 mit mehreren großen Veranstaltungen gedenken. Carlos Duarte, Präsident der Evangelischen Kirche am La Plata, sieht eine Chance für den argentinischen Protestantismus, nach innen und nach außen gestärkt aus dem Reformationsjubiläum hervorzugehen:
    "Der Mythos Luther ist präsent. Unsere Gemeindemitglieder wissen, dass unsere Kirche aus der Reformation entstanden ist, dass Luther ein Held war, dass er die Bibel übersetzt hat. Die Herausforderung aber ist, der Reformation für uns einen neuen Sinn, eine neue Bedeutung zu verleihen, damit wir der argentinischen Gesellschaft vermitteln können, was es heißt, protestantisch zu sein."