Donnerstag, 28. März 2024

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Protestbewegung in der russisch-orthodoxen Kirche
Ein Brief und seine Folgen

In der russisch-orthodoxen Kirche rumort es. Die Kirchenleitung stellt sich weiter hinter die Politik von Präsident Putin, auch wenn Menschenrechte verletzt werden. Nun ist einigen Priestern der Kragen geplatzt. Sie setzen sich ein für die Protestbewegung.

Von Gesine Dornblüth | 08.04.2020
Demonstrierende mit Fahnen und einem langen Transparent
Genehmigte Demonstration gegen den Ausschluss oppositioneller Kandidaten bei den Regionalwahlen in Moskau am 20.07.2019 (Gesine Dornblüth / Deutschlandradio)
Ein Priester der russisch-orthodoxen Kirche berichtet: "Die Omon-Leute kamen wieder, in Uniform, mit Ausrüstung. Da habe ich sie gefragt: Seid ihr gläubig? Sie haben gesagt, sie seien orthodox. Ich habe sie daran erinnert, dass Gewalt eine Sünde ist, und dass es ein Zeichen von Schwäche ist, wenn ein Bewaffneter, mit einem Schutzschild, einem Helm und einem Schlagstock, Gewalt anwendet gegen einen Menschen, der sich noch nicht mal wehrt."
Und einer seiner Kollege: "Die Priester beginnen, untereinander Probleme zu diskutieren, darunter auch den mangelnden Schutz vor der Willkür der Bischöfe. Vielleicht führt das am Ende zu etwas. Zumindest hat der Brief einen Teil des Klerus stimuliert, nachzudenken und sich mit den Brüdern auszutauschen."
Moskau im Sommer 2019. Über Wochen gehen Menschen im Zentrum der russischen Hauptstadt auf die Straße. Sie protestieren gegen den Ausschluss von Oppositionskandidaten von den Moskauer Regionalwahlen. Schwer bewaffnete Polizisten sperren Straßen und Plätze ab. Die Demonstranten sammeln sich an immer wieder neuen Orten. Die meisten Protestaktionen sind nicht genehmigt, wer mitmacht, riskiert eine Gefängnisstrafe. Trotzdem kommen Tausende.
Demonstranten-Schutz
Am letzten Samstag im Juli treiben die Sicherheitskräfte die Demonstranten mit Gewalt zusammen und nehmen an einem einzigen Tag mehr als tausend von ihnen fest.
"Schon zu Beginn der Kundgebung waren einige in unsere Kirche gekommen. Aber dann hat die Polizei den Zugang zur Kirche mit einem Gitter versperrt. Die Demonstranten haben versucht, sich in die Hinterhöfe zu flüchten, wie es sie im Zentrum Moskaus häufig gibt. Einer dieser Hinterhöfe grenzt an unseren Kirchhof. Er ist zwar von einem sehr hohen Zaun umgeben, aber angesichts der Gefahr – es gab an dem Tag schreckliche Gewaltszenen – fingen die jungen Leute an, über den Zaun zu klettern."
Ioann Guaita ist Priestermönch in der St. Cosmas und Damiankirche in der Stoleschnikow Gasse. Priestermönch: Das entspricht einem Ordenspriester in der römisch-katholischen Kirche – er ist ein Mönch, der die Priesterweihe empfangen hat. Ursprünglich stammt Guaita aus Italien. Vor rund dreißig Jahren kam er nach Moskau und konvertierte zum orthodoxen Glauben.
"Ich habe die Demonstranten begrüßt, habe gesagt, dass sie bleiben können, solange sie wollen. Und ich habe vorgeschlagen, gemeinsam für Frieden zu beten. Was wir dann auch getan haben. Die Demonstranten waren erstaunt. Einige sagten: Oh, interessant, die Kirche ist auf unserer Seite."
So wie den Demonstranten ging es vielen Menschen, - auch der deutschen Theologin Regina Elsner.
"Es hat mich positiv überrascht, weil man tatsächlich in der russisch-orthodoxen Kirche oder in Russland nicht automatisch damit rechnen konnte bis dahin, dass eine russisch-orthodoxe Kirche ihre Türen öffnet in so einer Situation, man hatte eher immer den Eindruck vorher, dass sie sie mit Absicht vorher zumachen würden."
Elsner forscht am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin zur russisch-orthodoxen Sozialethik.
"Die Kirche ist definitiv sehr loyal zur Staatsführung. Sie unterstützt eigentlich widerspruchslos alles, was von Staatsseite aus kommt, alle Initiativen, alle Prozesse, die dort vor sich gehen, werden auf keinen Fall kritisiert und eher noch positiv unterstützt."
Die Nachricht, dass ein Priester den Demonstranten Schutz gewährte, verbreitete sich schnell in sozialen Netzwerken und in der liberalen russischen Presse.
Priester Ioann Guaita fand sein Vorgehen selbstverständlich. Schließlich ist die christliche Kirche gehalten, jedem die Tür zu öffnen, der um Hilfe bittet. Am selben Abend klopften die Angehörigen der Omon, der Elitetruppe des russischen Innenministeriums, an die Kirchentür.
"Sie hatten den ganzen Tag in der Sonne gestanden. Das waren auch junge Leute. Sie haben nach Trinkwasser gefragt und ob sie sich frisch machen und die Toilette benutzen dürften. Natürlich haben wir auch sie reingelassen."
Eine Woche später gab es wieder eine Kundgebung.
"Und die Omon-Leute kamen wieder, in Uniform, mit Ausrüstung. Da habe ich sie gefragt: Seid ihr gläubig? Sie haben gesagt, sie seien orthodox. Ich habe sie daran erinnert, dass Gewalt eine Sünde ist, und dass es ein Zeichen von Schwäche ist, wenn ein Bewaffneter, mit einem Schutzschild, einem Helm und einem Schlagstock, Gewalt anwendet gegen einen Menschen, der sich noch nicht mal wehrt."
Wieder wurden hunderte friedliche Demonstranten festgenommen. Die Strafverfolgungsbehörden warfen den überwiegend jungen Männern vor, sie hätten Massenunruhen organisiert oder zumindest daran teilgenommen. Im September fielen die ersten Urteile: Mehrere Jahre Haft.
Nun sorgten russische Priester erneut für Schlagzeilen. Sie schrieben einen offenen Brief.
Sensationeller Priesterbrief
"In Erfüllung der pastoralen Pflicht, Fürsprache für die Gefangenen einzulegen, halten wir, Priester der russisch-orthodoxen Kirche, jeder in seinem eigenen Namen, es für unsere Pflicht, unsere Überzeugung auszudrücken, dass die gegen eine Reihe von Angeklagten verhängten Gefängnisstrafen überprüft werden müssen."
Namentlich traten die Priester für zwei Männer ein: Für Aleksej Minjajlo, ein aktives Gemeindemitglied, dem der Prozess damals noch bevorstand; und für Konstantin Kotow. Der Programmierer hatte wiederholt friedlich für die Freilassung politischer Gefangener demonstriert und wurde zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt. Das Gericht ließ entlastendes Videomaterial nicht zu, die Zeugenaussagen der Polizisten wirkten abgesprochen. Die Priester mahnten:
"Wir sind besorgt, dass die verhängten Urteile eher einer Einschüchterung russischer Bürger als gerechten Entscheidungen ähneln."
Der Brief war eine Sensation. So etwas hatte es in der russisch-orthodoxen Kirche noch nicht gegeben.
Die Unterschriften kamen aus ganz Russland. Auch Priester aus dem Ausland setzten ihren Namen darunter.
Priester Wladimir Lapschin li und Oleg Batow re
Die Priester Wladimir Lapschin (li) und Oleg Batow (re) gehörten zu den ersten Briefunterzeichnern (Gesine Dornblüth / Deutschlandradio)
Zu den ersten Unterzeichnern gehörten Wladimir Lapschin und Oleg Batow, Priester einer kleinen Moskauer Kirche in der Gasetnyj Gasse ganz in der Nähe des Kreml.
"Ich bin schon alt. Ich habe unter Stalin gelebt, ich habe unter Chruschtschow gelebt, unter Breschnew, unter Andropow. Ich weiß sehr gut, was Unfreiheit ist. Und ich sehe, dass jetzt vieles wieder in diese Richtung läuft. Die Lüge der offiziellen Propaganda, die unfreie Justiz."
Die Gemeinde in der Gasetnyj Gasse gilt als liberal. Frauen müssen hier, anders als in den meisten russisch-orthodoxen Kirchen, kein Kopftuch tragen. Priester Lapschin trägt sein Haar, ungewöhnlich für russisch-orthodoxe Priester, kurz.
"Ich sehe, wie die Freiheit beschnitten wird, wie die Machtstrukturen davon abhängen, was Wladimir Putin über etwas denken mag und wie man darauf reagieren muss. Mir macht das Angst."
Das Echo auf den Brief der Priester war groß. Selbst Russen, die nichts mit der Kirche zu tun hatten, lobten die Aktion. Wladimir Posner, ein bekannter russischer Fernsehmoderator, schrieb in seinem Blog:
"Ich stimme russisch-orthodoxen Priestern selten zu. Aber heute habe ich nicht nur nichts gefunden, mit dem ich nicht einverstanden gewesen wäre; ich habe sogar bedauert, dass meine Unterschrift nicht unter dem Brief stand."
Die Reaktion der Kirchenleitung
Ganz anders die Reaktion der Kirchenleitung.
Wachtang Kipschidse, Sprecher der russisch-orthodoxen Kirche, warf den Priestern vor, sie hätten sich in die Politik eingemischt. Kipschidse sitzt in einem schmucklosen Büro mit Blick auf den Fluss Moskwa, hinter sich ein Porträt des Patriarchen.
"Die Kirche soll keine Politik machen. Unsere Priester sind Teil des Machtkampfes geworden. In der Gesellschaft läuft ständig ein Machtkampf. Die Kirche muss sehr weise sein und sich daran nicht beteiligen. Denn in der Kirche müssen Menschen, die mit den Ansichten der Regierung übereinstimmen, genauso Platz finden wie Menschen, die gegen die Regierung sind."
Kirchensprecher Wachtang Kipschidse in seinem Büro mit Porträt des Patriarchen
Wirft den Priestern Einmischung in die Politik vor, Kirchensprecher Wachtang Kipschidse (Gesine Dornblüth / Deutschlandradio)
Kipschidse verweist auf ein Kirchendokument. Es stammt aus dem Jahr 1994. Drei Jahre zuvor war die Sowjetunion auseinandergebrochen, der russische Staat war noch jung. Das Bischofskonzil befasste sich mit der Beziehung zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und dem Staat und bekräftigte,
"dass die Kirche kein Staatssystem, keine politische Doktrin, keine konkreten gesellschaftlichen Kräfte und Akteure einschließlich der Machthaber bevorzugen darf."
Genau das aber tut Patriarch Kirill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. Als sich Wladimir Putin im Winter 2011/2012 um eine dritte Amtszeit als Staatspräsident bewarb, trat Kirill mit ihm im Fernsehen auf und erklärte:
"Als Patriarch, der aufgerufen ist, die Wahrheit zu sagen, unabhängig von politischer Konjunktur und propagandistischen Akzenten, muss ich ganz offen sagen: Sie persönlich, Wladimir Wladimirowitsch Putin, haben eine riesige Rolle in der Korrektur dieses krummen Abschnitts unserer Geschichte gespielt. Ich möchte Ihnen danken."
Kampfbegriff "Menschenrechte"?
Das war offene Wahlkampfhilfe. Dagegen sei der Brief vom vergangenen Herbst etwas ganz anderes, sagt Ioann Guaita, der Priestermönch, der Demonstranten und Sicherheitskräfte in seine Kirche ließ.
"Was ein Priester der russisch-orthodoxen Kirche nicht darf, ist, für politische Parteien, für politische Führungspersonen Wahlkampf zu machen. Nichts dergleichen ist in dem Brief enthalten. Der Brief ist ein Aufruf, das Gesetz einzuhalten. Der Staat tut das nicht."
Auch der Priester Wladimir Lapschin schüttelt den Kopf über die Kritik des Kirchensprechers:
"Das Eintreten für Menschenrechte ist die erste Pflicht der Kirche und gläubiger Christen. Weil Menschenrechte eine unveräußerliche Gabe Gottes sind. Da geht es um den Kern des Christentums."
Menschenrechte – das ist ein in der russisch-orthodoxen Kirche durchaus umstrittener Begriff. Kirchensprecher Wachtang Kipschidse:
"Natürlich tritt die Kirche für die Achtung der Menschenrechte ein, aber wir wissen alle sehr gut, dass all diese Kategorien in unserer Welt sehr stark politisiert sind; dass der Begriff Menschenrechte im politischen Kampf zur Waffe wird; dass die, die mit Menschenrechten argumentieren, das meist tun, um in der Politik an die Macht zu kommen."
Individuelle Menschenrechte, so heißt es in Russland oft, seien die Erfindung eines zunehmend dekadenten Westens. Die russisch-orthodoxe Kirche argumentiere ähnlich, erläutert die Theologin Regina Elsner.
"Die Menschenrechte werden in allen offiziellen Dokumenten der Kirche immer unterstützt. Es wird immer gesagt, Menschenrechte sind was Gutes, Menschenrechte sind schützenswert. Gleichzeitig würde man aber eben immer sagen: Die Menschenrechte in ihrer heutigen Form sind ein Konzept, was in weltlicher Sphäre entwickelt wurde, was säkular ist und nicht religiös geprägt wird, und was kritisch beobachtet werden muss, weil es einen westlichen Individualismus, würden die immer sagen, in den Mittelpunkt stellt, anstatt Gott in den Mittelpunkt zu stellen und den Menschen in seinen gemeinschaftlichen Verpflichtungen sozusagen wahrzunehmen. Und deswegen ist das mit dem Schutz des Individuums, da wird es immer schwierig, an der Stelle."
Priester wie Wladimir Lapschin und Oleg Batow berufen sich auf die Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche, die das Bischofskonzil im Jahr 2000 verabschiedet hat.
"Das ist ein sehr wichtiges Dokument sowohl für die russisch-orthodoxe Kirche, als auch überhaupt für die Orthodoxie, weil keine andere orthodoxe Kirche bis jetzt so ein Grundlagendokument zu sozialen Fragen jemals vorgelegt hat."
In dieser Sozialdoktrin heißt es:
"Wenn die staatliche Macht die orthodoxen Gläubigen zur Abkehr von Christus und Seiner Kirche sowie zu sündhaften, der Seele abträglichen Taten nötigt, so ist die Kirche gehalten, dem Staat den Gehorsam zu verweigern."
In dem Dokument werden verschiedene Möglichkeiten genannt, wie die Kirche gegen staatliches Unrecht vorgehen kann, darunter:
"Aufruf zu gewaltlosem zivilen Widerstand."
Das ist aber erst der letzte Punkt. Der erste lautet:
"Aufnahme eines direkten Dialogs mit der Staatsgewalt über das aufgekommene Problem."
Auf diese Stelle berufe sich gewöhnlich die Kirchenleitung, sagt Regina Elsner:
"Das ist was, was man jetzt hört, wenn man offizielle Kirchenvertreter fragt, warum tretet ihr nicht ein für Menschenrechte, warum seid ihr nicht öffentlich hörbar auf der Seite von Protestlern? Dann sagen sie, wir machen das auf unsere Art und Weise. Wir machen das hinter verschlossenen Türen, das muss nicht jeder wissen, das ist die Art und Weise, wie die Kirche das macht."
Monarchistische Machtstrukturen
Kirchensprecher Kipschidse wirft den Unterzeichnern des Solidaritätsbriefes denn auch vor, sie hätten versäumt, sich die Einwilligung ihres Vorgesetzten zu holen.
"Wenn ein Bischof zufällig erfährt, dass sein Priester beschlossen hat, Politik zu machen, dann ist das ein Vertrauensbruch. Es ist, als hätte ein Priester seinem Bischof ins Gesicht gespuckt."
Die russisch-orthodoxe Kirche war nie demokratisch. Über Jahrhunderte war sie gleichsam die Kirche des Zaren. Nur einmal, während der Revolutionswirren 1917 bis 1918, schrieb ein Bischofskonzil ernsthafte Reformen fest: Bischöfe sollten künftig gewählt, die Stellung von Laien und von Frauen gestärkt werden. Dann wurde die Sowjetunion gegründet, und mit der Verfolgung der russisch-orthodoxen Kirche gerieten die Reformen in Vergessenheit.
"Wir haben, wie einige Kirchenhistoriker schreiben, eine Art monarchistisches Bischofstum, in der russisch-orthodoxen Kirche viel mehr als in anderen orthodoxen Kirchen. Es hat sich historisch so ergeben und setzt sich fort. Priester können wegen jeder Kleinigkeit versetzt werden, ganz wie ein Bischof es will."
"Die Priester der russisch-orthodoxen Kirche zählen zu den am wenigsten geschützten sozialen Gruppen im heutigen Russland".
Schreibt die Moskauer Kirchenexpertin Ksenija Lutschenko in einem Aufsatz für das Carnegie-Zentrum, eine internationale Denkfabrik.
"Sie sind vollständig von der Kirchenleitung, ihrem zuständigen Bischof und seinen Mitarbeitern abhängig."
Auch einige Unterzeichner des Solidaritätsbriefes bekamen Schwierigkeiten. Die Kirchenleitung hatte zwar dazu aufgerufen, diese nicht zu bestrafen. Doch russische Medien berichteten, Mitarbeiter der Bischöfsämter hätten Priester angerufen, ihnen gedroht, sie aufgefordert, ihre Unterschriften zurückzuziehen.
Ein echter Wendepunkt?
Dezember 2019, drei Monate nach der Veröffentlichung des Solidaritätsschreibens. Im Moskauer Bezirksgericht Kunzewo geht der Prozess gegen den Studenten Jegor Schukow zu Ende. Die Anklage wirft ihm "Aufruf zu Extremismus" vor und fordert vier Jahre Haft. Schukow hatte sich in mehreren Youtube-Videos zu den Protesten im Sommer geäußert und gewaltfreien Widerstand gerechtfertigt. Seine Unterstützer drängeln sich vor dem Gericht. Drinnen hält der Angeklagte eine vielbeachtete Rede, übertragen über diverse private Telegram-Kanäle.
"Der russische Staat positioniert sich heute als letzter Verteidiger traditioneller Werte. Als zentraler Wert wird der christliche Glaube genannt. Euer Ehren, mir scheint, das ist vielleicht sogar gut, denn einige dieser Werte sind mir wahrhaft nahe."
Das Urteil fällt milder aus als von vielen erwartet: Jegor Schukow erhält eine Bewährungsstrafe. Wladimir Lapschin, der Priester aus Moskau, freut sich darüber:
"Die Verhaftungen gehen weiter, und weiter werden reale Haftstrafen verhängt. Aber dass Jegor Schukow eine Bewährungsstrafe bekommen hat und nicht ins Gefängnis muss, ist in gewissem Maße eine Reaktion auf unseren Brief. Allein dafür hätte es sich gelohnt, ihn zu schreiben und zu unterzeichnen. Er trägt Früchte. Nicht solche, die wir gern hätten, nicht solche, mit denen man in einer normalen Gesellschaft rechnen könnte, aber immerhin etwas."
Zu den "Früchten" zählt möglicherweise auch, dass zumindest einer der beiden Aktivisten, deren Namen in dem Brief der Priester genannt wurden, das Gemeindemitglied Aleksej Minjajlo, freigelassen wurde. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt.
Der Ordensmann Ioann Guaita glaubt, dass der Brief auch innerhalb der Kirche etwas verändert hat. Bei dem Prozess gegen den Studenten Jegor Schukow hätten zum Beispiel, anders als bei früheren Prozessen, auch viele Priester im Publikum gesessen.
"Wir befinden uns an einem Wendepunkt. Das soziale, bürgerschaftliche Bewusstsein wächst. In der Gesellschaft und auch in der Kirche. Das ist gut."
Im Februar 2020 fielen in Russland weitere aufsehenerregende Urteile. In der Stadt Pensa gut 500 Kilometer südöstlich von Moskau wurden sieben junge Männer zu sechs bis 18 Jahren Haft verurteilt, weil sie nach Auffassung des Gerichts Terroranschläge geplant hatten. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial bezeichnet die Verurteilten als politische Gefangene. Geständnisse seien unter Folter entstanden, der Fall sei konstruiert und diene nur der Abschreckung. Die Kirchenvertreter schwiegen dazu, mit Ausnahme einiger weniger. Dem bemerkenswerten Brief der russisch-orthodoxen Priester folgte kein zweiter.