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Protestbewegungen
Die Illusion der direkten Demokratie

Die alteingesessenen Parteien gelten nicht selten als Projektionsfläche für Politikverdrossenheit. Viele Bürger haben den Eindruck, sie könnten ohnehin nichts verändern und schließen sich Protestbewegungen an, die mehr Teilhabe versprechen. Der französische Intellektuelle Jacques des Saint Victor rechnet in einem Essay mit dieser Art Gruppierung ab.

Von Norbert Seitz | 20.07.2015
    Ein Occupy-Demonstrant bei einer Demonstration in New York
    Jacques des Saint Victor beschreibt in seinem Essay, wie aus vermeintlich direkter Demokratie eher Demagogie und Unterdrückung werden. (picture alliance / dpa)
    "Vaffanculo, vaffanculo!"
    So skandierten Sprechchöre aus der "Bewegung Fünf Sterne" des italienischen Politclowns Beppe Grillo auf ihrem ersten V-Day, das heißt "Vaffanculo"-Tag. Zu deutsch: "Leck-mich-am Arsch!-Tag".
    Selten seit dem Faschismus hat eine Bewegung mit solch vulgärer Verachtung gegen die repräsentative Demokratie zu mobilisieren versucht. So zum Beispiel über die UDC, die neue Partei der Christdemokraten, die Beppe Grillo in eine Partei der Häftlinge umzutaufen pflegt:
    "UDC, UDC? Das ist ein Abkürzung für Union di Carcerati "
    Der Rechtshistoriker Jacques de Saint Victor untersucht am italienischen Beispiel, warum "Cinque Stelle" mehr ist als nur eine Rebellion gegen das Versagen der Eliten im Rahmen der weltweiten "Empört-Euch!"-Bewegung. Dank der Partizipationsmöglichkeiten im Netz baue sich hier ein modernes "egalitaristisches" Gegenprojekt auf, getragen von der wiederbelebten Illusion einer "direkten Demokratie":
    "Das Netz nährt den Glauben, man könne die traditionellen Eliten durch eine neue digitale Polis ersetzen, die ohne die alten, eingerosteten, überholten, delegitimierten Institutionen der Repräsentativdemokratie auskäme."
    "Viele Webaktivisten verspüren wenig Lust, sich zu engagieren"
    In Italien verschwand 1993 unter der juristischen "Operation Saubere Hände" die gesamte alte politische Klasse mit ihren zahlreichen Skandalen und Regierungswechseln. Was folgte, war das frivole Berlusconi-System mit seinem verdorbenen Glauben an die Tugenden des "Privaten" und die Unendlichkeit des Genusses.
    Seitdem versucht der "postmoderne Savonarola" Grillo mit seinem Netz-Guru und "Techno-Propheten" Roberto Casaleggio einer "Heiligen Allianz" auf die Sprünge zu helfen, bei der sich ... "Antipolitiker und Netztheoretiker bzw. Cyberaktivisten in dem gemeinsamen Willen treffen, sich all derer zu entledigen, die sich seit zwei Jahrhunderten zwischen das Volk und die Macht stellen. Manche "Antipolitiker" verstehen nichts von den Geheimnissen des Netzes, und viele Webaktivisten verspüren wenig Lust, sich zu engagieren. Und doch ist in den technologischen Untiefen der Revolution 2.0 eine Art gemeinsamer Protestkultur entstanden".
    Den Einzug der neuen Technologien in die Protestbewegungen nennt der Autor "ultramodernen Webpopulismus". Doch welche Weltveränderung und individuelle Neuerfindung strebt er an? Und vor allem: für wen?
    "Handelt es sich nicht vielmehr um die jüngste List des Marktes? Ein Umstand macht hellhörig. Keiner dieser angeblichen "Weltveränderer" spricht von sozialen Dingen. Als würden sie meinen, in einer gerechten und idealen Welt zu leben, in der die einzigen Gefahren, die noch drohten, der Meinungsfreiheit im Internet gälten".
    Auch die hübsche Idee, "per staatsbürgerlichem Mausklick" die Mauer zwischen Bürger und Institutionen überwinden zu wollen, kehre sich am Ende gegen die Bürger. Man könne kein Parlament in ein Glashaus verwandeln. Der Tempel der Transparenz sei in Wahrheit ein Gefängnis.
    "Doch durch den Klick auf seine Maustaste entzieht sich der Bürger der direkten Demokratie der Konfrontation mit den anderen ( ... ). Das Netz gleicht einer "einsamen Masse" von Individuen, die Probleme haben, "in wirkliche Dialoge einzutreten", urteilt Jacques de Saint Victor in seinem Essay ein wenig düster, angetrieben vom Negativbeispiel der Netzdebatten in Italien mit ihrer Unkultur an digitaler Rudelbildung.
    Doch das Fehlen einer "aufgeklärten Diskussion" lässt sich dem Netz allein kaum anlasten. Auch wenn er deren Rezepturen verwirft, kommt der Autor nicht umhin, den antipolitischen Webpopulisten wenigstens zugute zu halten, die Ursachen für die schwelende Vertrauenskrise in unseren demokratischen Gesellschaften offengelegt zu haben.
    "Natürlich kann die Bewegung von Beppe Grillo, wie jedes sogenannte "populistische" Phänomen, genauso schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht ist. Aber die Infragestellung der Institutionen, die sie via Internet zum Ausdruck bringt, wird in unseren "Misstrauensdemokratien" noch lange nachwirken.
    Jacques de Saint Victor: "Die Antipolitischen"
    Mit einem Kommentar von Raymond Geuss
    Hamburger Edition, 112 Seiten, 12 Euro