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Proteste gegen die Regierung in Brasilien
"Neuwahlen wären der einzige Ausweg"

Derzeit seien 80 Prozent der Brasilianer nicht mit der Politik der Regierung einverstanden, sagte die stellvertretende Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sao Paulo, Katharina Hofmann de Moura, im DLF. Das Einzige, was der Bevölkerung wieder das Gefühl geben könne, zu ihrer Regierung zu stehen, seien Neuwahlen.

Katharina Hofmann de Moura im Gespräch mit Stephanie Rohde | 27.05.2017
    Bei Protesten gegen den brasilianischen Präsidenten Michel Temer kommt es in Brasilia zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei.
    Bei Protesten gegen den brasilianischen Präsidenten Michel Temer kommt es in Brasilia zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. (imago / Xinhua)
    Stephanie Rohde: Brasilien hatte in dieser Woche die gewalttätigsten Unruhen seit 2013 erlebt: schwarze Rauchwolken standen am Mittwoch über dem Regierungsviertel in Brasília. Nach Angaben der Polizei hatten sich 35.000 Menschen dort versammelt. Gewerkschaften sprechen allerdings von über 200.000 Menschen, die demonstriert haben gegen den Präsidenten Temer, gegen den wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt wird. Die Polizei setzte Tränengas ein, um einen Sturm auf den Kongress zu verhindern, mehrere Ministerien mussten evakuiert werden. Auch dass das Militär eingesetzt wurde, hat für Kritik gesorgt. Die Lage konnte unter Kontrolle gebracht werden. Brasiliens Präsident hat nach massiver Kritik dann das Militär wieder in die Kasernen zurückbeordert. Welche Auswege gibt es aus der politischen Krise in Brasilien, dem größten Land Lateinamerikas – darüber habe ich mit Katharina Hofmann gesprochen von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Sao Paolo, und ich habe sie gefragt, Soldaten kurzzeitig im Inland einzusetzen, das hat ja bei vielen Brasilianern Erinnerungen an die Militärdiktatur von 1964 bis 85 geweckt. Können Sie diesen Vergleich nach dieser Woche nachvollziehen?
    Katharina Hofmann: Ich denke, dass der Einsatz des Militärs, den Sie ja eben richtig noch mal angesprochen haben, hier oft verglichen wird mit dem traumatischen Erlebnis einer Militärdiktatur, sehr überzogen war und er deswegen ja auch sofort wieder beendet war nach einem Tag. Es war auch kein Militäreinsatz in ganz Brasilien, sondern es bezog sich tatsächlich auf die Stadt Brasília und auf diese Fläche, die sich um die Ministerien und vor dem Parlament befindet.
    Rohde: Und hat dieser Militäreinsatz die Lage jetzt verbessert oder eher noch verschlechtert?
    "Wir haben von den Protesten noch gar nichts mitbekommen"
    Hofmann: Ja, also es gibt sozusagen keinen Militäreinsatz mehr, sondern der bezog sich lokal auf diese Demonstration vor den Ministerien und vor dem Parlament und Abgeordnetenhaus. Also es gibt ja hier ein Zweikammersystem, Senat und Abgeordnetenhaus, und die Proteste haben in diesem Regierungsviertel stattgefunden und dort wurde dann das Militär eingesetzt. Also wir sind in Sao Paolo zum Beispiel, das ja mit zehn Millionen die größte Stadt Brasiliens ist. Hier gibt es kein Militär auf der Straße. Wir haben von den Protesten außer im Fernsehen noch gar nichts mitbekommen. Also es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass sozusagen in ganz Brasilien im Moment Chaos herrscht. Das war sozusagen ein friedlicher Protest, lokal fand der statt in der Hauptstadt Brasília. Wenn Sie mir die Gelegenheit geben, würde ich kurz darauf eingehen, warum protestiert wurde.
    Rohde: Das wollte ich gerade machen, genau, das wäre meine Frage gewesen.
    Hofmann: Dann würde ich das kurz darstellen wollen, und zwar sind es sozusagen zwei Ebenen gegen die sich die Proteste gerichtet haben, von den Gewerkschaften und von sozialen Bewegungen organisiert, und es waren zwei Projekte, die die Regierung Temer durchpushen möchte, also auch wirklich mit, ich würde mal sagen, einer Intensität, die doch manchmal irritiert, warum diese Agenda nun unbedingt durchgepusht werden muss, und zwar ist es einmal die Reform der Arbeitsrechtssprechung – das ist sozusagen das Arbeitsbuch, wo die Arbeitsgesetze festgeschrieben sind, das ist alt, von 1943, dennoch wurden natürlich immer Veränderungen vorgenommen. Also die Rede der Regierung ist, das ist alles völlig verkrustet und veraltet und muss flexibilisiert und unternehmerfreundlich gestaltet werden, damit die Wirtschaft endlich wieder auf die Höhe kommt. Das kann man sozusagen aus sozialer Perspektive stark anzweifeln, dass das die Situation verändert wird. Es geht also um eine unternehmerfreundliche Agenda, die dieser Präsident durchziehen möchte.
    Rohde: Und haben die Brasilianer da das Gefühl, dass dieser Konflikt gar nicht mehr im Parlament gelöst werden muss, sondern auf der Straße?
    "Die Regierung hat gar keinen Rückhalt in der Bevölkerung"
    Hofmann: Na ja, also im Moment ist ja sozusagen im Parlament ganz klar die rechtskonservative Parteikoalition, die dort die Mehrheit hat, an der Macht, und der Protest kommt insofern von der Straße, weil ja eben Gewerkschaften und soziale Bewegungen sich in diesem Kongress gar nicht mehr vertreten fühlen, und insofern, denke ich, haben Sie da recht, ja. Im Moment sieht man da eher die Lösungswege von außen und eben deutlich zu machen, dass man dieser Regierung nicht zustimmt. Im Übrigen kann man ja auch klar sagen, die Regierung hat ja auch gar keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Sie wissen ja, das war eine Absetzung, die durchaus als illegitim betrachtet werden kann von Dilma Rousseff eben durch die jetzt als korrupt dargestellten Politiker Eduardo Cunha und Temer, und jetzt stellt sich natürlich die Frage – das müssen die Gerichte entscheiden –, sind sie kriminell oder nicht. Angeklagt sind sie: Eduardo Cunha ist bereits im Gefängnis, für 15 Jahre verurteilt. Der Präsident Temer ist ebenfalls vom Obersten Gerichtshof angeklagt wegen Korruption und wegen Verantwortung für eine kriminelle Vereinigung. Also das sind ja durchaus Vorwürfe, denen man nachgehen muss, und deswegen finde ich, oder aus unserer Sicht, haben natürlich die Menschen vollkommen recht, wenn sie sagen, jetzt müssen wir protestieren gehen für unsere Demokratie und auch für unsere Rechte, denn die zweite Reform ist auch noch die Kürzung der Renten- und Sozialsysteme in diesem Land, und da Brasilien eben kein Sozialstaat wie der deutsche ist, sondern diese Dinge sich im Aufbau befanden, also quasi die Ungleichheit erst kurz bekämpft wurde in diesen zwölf Jahren PT-Regierung, ist natürlich die Angst da, dass das alles wieder verlorengeht und ganz viele Menschen in die Armut abrutschen.
    Rohde: Was würden Sie sagen, wie schlimm ist es um Brasilien bestellt in den Augen der Brasilianer? Also haben die das Gefühl, dass die gesamte politische Kaste, wenn man so möchte, korrupt ist?
    Hofmann: Ja, das sehen Sie vollkommen richtig. Es gab ja auch vorher viele Proteste, in denen sozusagen der gesamte Rücktritt aller Politiker gefordert wird, was natürlich auch schwierig ist, also sozusagen eine antipolitische, eine Politikverdrossenheit, wie wir im Deutschen sagen würden, ist durchaus spürbar. Es gab dann allerdings eine, ich würde sagen Hetzkampagne der Medien, die sich stark gegen die Linke gerichtet hat, um dann die Amtsenthebung von Dilma Rousseff durchzuziehen. Die Medienunternehmen hier sind jetzt nicht vergleichbar mit unseren deutschen öffentlichen Sendern – das möchte ich betonen –, sondern es sind wirklich Medienkonglomerate, wie wir sie bei uns gar nicht kennen, die hier ganz klar unternehmerische Interessen vertreten, und da gab es sozusagen diese Anstoßrichtung, und im Moment schwenkt es jetzt wieder um, weil eben jetzt zunehmend Proteste gegen die jetzige Regierung, also die ja eigentlich nur eine Interimsregierung ist, stattfinden. Die Menschen fordern – deswegen auch der Vergleich zur Militärdiktatur –, richtig und wichtig, die Menschen fordern wie damals Direktwahlen. Sie möchten wählen gehen. Laut Verfassung, wenn Temer jetzt verhaftet wird oder zurücktritt…
    Rohde: Gehen Sie davon aus, dass er zurücktritt? Er weigert sich ja bislang.
    "Temer macht so eine Art Realitätsverweigerungsprogramm"
    Hofmann: Genau, das ist absolut richtig. Er macht so eine Art Realitätsverweigerungsprogramm. Er hat wieder eine Ansprache gehalten, dass er nicht zurücktreten wird und dass er dafür sorgen wird, dass die Arbeitsreformen jetzt durchgedrückt werden, das ist offensichtlich sein wichtigstes Baby, aber es gibt durchaus noch einen weiteren Vorwurf, der ihn zu Fall bringen könnte, und zwar, dass die Wahlen von 2014, wo er ja Vizepräsident neben Dilma Rousseff war, annulliert werden, und zwar vom Obersten Wahlgerichtshof. Diese Verhandlung findet am 6. Juni statt. Es gibt die Vermutung, dass er dann zurücktreten wird.
    Rohde: Und könnten dann Neuwahlen tatsächlich ein Ausweg aus der Krise sein?
    Hofmann: Also ich denke, dass im Moment, dadurch, dass eben diese Regierung illegitim war und dass sie auch durchaus aus politischen Gründen Dilma Rousseff versucht hat zu putschen – erfolgreich –, man kann das als parlamentarischen Putsch bezeichnen – das formale Wort ist Amtsenthebung, aber es gab ja durchaus eine politische Agenda dahinter –, und ich denke, dass jetzt Neuwahlen das Einzige wären, was den Menschen, wie gesagt, wieder das Gefühl, dass sie zu ihrer Regierung stehen, denn im Moment sind über 80 Prozent der Menschen gegen diese Regierung, und ich denke, in einem Land, was eine Demokratie sein möchte, und hoffentlich auch noch eine ist, wären Neuwahlen der einzige Ausweg. Auch für Ansprechpartner von außen, denn in den internationalen Beziehungen steht Brasilien im Moment natürlich auch schlecht da, da nach außen die Nachricht ist, das Land ist im dauerhaften Krisenmodus. Das ist natürlich für die Wirtschaftskrise auch sehr, sehr schlecht.
    Rohde: Und welche Rolle spielt da die Justiz? Also wenn Sie jetzt sagen, es geht tatsächlich auch um den Zustand der Demokratie, täuscht der Eindruck oder geht die Justiz in der vergangenen Zeit konsequenter gegen Korruption vor und hilft damit auch der Demokratie?
    "Man hat schon oft das Gefühl, dass die Justiz auf einer Seite steht"
    Hofmann: Also es gibt sozusagen da, ja, ein zweischneidiges Schwert: Also einerseits ist es richtig, dass gegen Korruption vorgegangen wird, und das ist natürlich auch ein sehr wichtiger und richtiger Schritt. Der ganze Korruptionsskandal, der jetzt hier in letzter Zeit losgebrochen ist, ist eine Initiative von einem Staatsanwalt in Curitiba – so heißt der Bundesstaat –, der Staatsanwalt heißt Sérgio Moro. Dieser Anwalt, dem wird auch vorgeworfen, dass er parteiisch war in der Verfolgung und dass sein oberstes Ziel ist, Lula zu inhaftieren. Muss man alles mit Vorsicht genießen. Was wir allerdings schon beobachten, ist, dass die Justiz hier nicht immer transparent arbeitet und dass teilweise auch Informationen nach außen gespielt werden, um gewisse Stimmungen zu erzeugen und um die politische Agenda zu beeinflussen. Das wäre jetzt nach unserer Auffassung, als Deutsche sprechend, bei uns nicht möglich. Also als Beispiel könnte jetzt die Bundespolizei bei uns nicht einfach Tonbänder rausgeben mit Aufnahmen, die jemanden beschuldigen. Die Justiz macht das hier systematisch. Also es werden sozusagen immer wieder Informationen, die dann als geleakt gekennzeichnet werden, an die Presse gespielt, und das ist natürlich eigentlich nicht das, was eine Justiz machen sollte. Zudem, Sérgio Moro zeigt sich immer wieder mit rechtskonservativen Politikern – auch das sollte er eigentlich als Staatsanwalt nicht tun. Er sollte Neutralität darstellen. Das ist hier in der Justiz in einem Klassensystem wie dem brasilianischen schwierig. Da hat man schon oft das Gefühl, dass die Justiz auf einer Seite steht, und die Seite ist nicht unbedingt die der einfachen Menschen.
    Rohde: So die Einschätzung von Katharina Hofmann von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Vielen Dank!
    Hofmann: Ich danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.