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Lage in Idomeni
"Die Zustände sind menschenunwürdig in jeder Form"

Die Lage für die Migranten an der griechisch-mazedonischen Grenze sei weiterhin dramatisch, sagte die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Luise Amtsberg, im DLF. Es gebe keine festen Unterkünfte, kein Schatten, keine Perspektiven. Amtsberg warb dafür, dass Europa mehr Flüchtlinge aufnehmen solle. Das EU-Türkei-Abkommen sei unzureichend.

Luise Amtsberg im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 09.04.2016
    Die blonde Luise Amtsberg blickt vor einem gräulichen Hintergrund leicht lächelnd in die Kamera.
    Luise Amtsberg, die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion (Daniel Reinhardt/dpa)
    Die Lage der Migranten an der griechisch-mazedonischen Grenze ist nach Angaben der flüchtlingspolitischen Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Luise Amtsberg, nach wie vor prekär. Derzeit befänden sich in Idomeni rund 19.000 Menschen, sagte sie im Deutschlandfunk. Die Zustände seien menschenunwürdig. Es fehle an festen Unterkünften, an Zelten, an Schatten, es gebe wenig Versorgung und keine Perspektiven für die Flüchtlinge. Amtsberg war in dieser Woche in Idomeni.
    Die griechischen Behörden seien an Ort und Stelle nicht präsent. Die Menschen würden fast komplett ehrenamtlich und durch die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" betreut. Griechenland sei mit den rund 50.000 Flüchtlingen im Land überfordert. Sie alle würden aus Angst vor einer Rückführung in die Türkei einen Asylantrag in Griechenland stellen. Griechenland aber habe sich immer als Transitland für Flüchtlinge verstanden und es deshalb versäumt, ein funktionierendes Asylsystem aufzubauen.
    Mehr Flüchtlinge aufnehmen
    Die Grünen-Politikerin forderte, auf europäischer Ebene weiter an Lösungen für die Flüchtlingsproblematik zu arbeiten. Das EU-Türkei-Abkommen sei unzureichend. Man müsse unter den europäischen Staaten dafür werben, dass mehr Flüchtlinge aufgenommen werden, führte Amtsberg aus. Gerade die Erstaufnahme-Einrichtungen in Deutschland hätten nach dem Rückgang der Flüchtlingszahlen die Kapazitäten dazu.
    Es sei zwar richtig, mit der Türkei zusammenzuarbeiten, fügte die Grünen-Bundestagsabgeordnete hinzu, aber das müsse "menschrechtlich vertretbar" geschehen: "Da hätte ich mir gewünscht, dass die Bundesregierung statt einer Vereinbarung mit der Türkei einfach zuzustimmen, ohne das menschenrechtlich zu kontingentieren, zum Beispiel dafür sorgt, dass die Türkei die Genfer Flüchtkonventionen umsetzt."

    Das Interview in voller Länge:
    Ann-Kathrin Büüsker: Seit Montag wird das Abkommen zwischen der EU und der Türkei offiziell umgesetzt, das heißt, es werden Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei abgeschoben, weil sie illegal in die EU gekommen sind und hier keinen Anspruch auf Asyl haben. So sieht es das Abkommen jedenfalls vor. Bisher wurden vor allem Menschen abgeschoben, die gar keinen Asylantrag gestellt haben, aus welchen Gründen auch immer. 124 waren es gestern, die von Lesbos, Kos und Samos überstellt wurden, und auf diesen Inseln leben noch mehr als 6.500 Flüchtlinge, die meisten von ihnen in geschlossenen Lagern, und auch im wilden Lager in Idomeni harren weitere 1.000 Menschen aus in der Hoffnung, dass die Grenze sich doch noch öffnet. Luise Amtsberg ist flüchtlingspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen und hat in dieser Woche diese Orte besucht. Sie ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau Amtsberg!
    Luise Amtsberg: Guten Morgen, Frau Büüsker!
    Büüsker: Frau Amtsberg, welche Eindrücke bringen Sie aus Griechenland mit?
    Amtsberg: Das muss man zweierlei beantworten. In Idomeni ist natürlich eine ganz andere Gemengelage als derzeit in den Lagern auf den Inseln. Idomeni ist ein Ort, der förmlich, nicht durch die Medien, aber durch die Politik vergessen zu sein scheint. Die griechischen Behörden sind vor Ort nicht präsent. Die Arbeit, die dort für die Menschen geleistet wird … Im Übrigen nicht nur 1.000 Menschen, sondern Ärzte ohne Grenzen hat jetzt gerade gezählt, es sind wohl 19.000 Menschen, die sich dort oben in der Region aufhalten, werden komplett versorgt durch Ehrenamt und durch die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Der UNHCR ist erst seit Kurzem vor Ort. Die Zustände sind menschenunwürdig in jeder Form. Es gibt keine festen Behausungen, kleine Zelte, keinen Schatten, wenig Versorgung und vor allen Dingen auch keine Perspektive.
    Büüsker: Und auf Lesbos?
    Amtsberg: Auf Lesbos stellt sich die Lage etwas anders dar. Dort haben wir die Situation, dass deutlich weniger Flüchtlinge ankommen in den letzten Tagen. Diejenigen Flüchtlinge, die derzeit noch auf der Insel sind, sind in den sogenannten Hotspots inhaftiert. Das war bis vor Kurzem noch nicht der Fall, aber jetzt hat man die Einrichtung so ausgerichtet, dass die Menschen dort nicht mehr wegkommen und in diesen Lagern warten. Die meisten von ihnen haben jetzt einen Asylantrag gestellt in Griechenland. Da wird jetzt zu beurteilen sein, inwiefern überhaupt die griechische Regierung, der griechische Staat in der Lage ist, diese Asylverfahren durchzuführen, und ob überhaupt ein richtiges Asylverfahren durchgeführt wird, steht wirklich in den Sternen und ist zu bezweifeln, denn man misst eher nach der Frage, gibt es einen Grund dafür, diese Menschen nicht in die Türkei zurückzuschieben und nicht die Frage, haben diese Menschen hier in Europa ein Recht auf Asyl.
    Büüsker: Ist Griechenland mit dieser Situation überfordert?
    Amtsberg: Das kann man, glaube ich, so sagen. Griechenland hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten immer als Transitland verstanden und in den vergangenen Jahren ganz generell versäumt, ein vernünftiges Asylsystem auf die Beine zu stellen mit entsprechender Infrastruktur. Es gibt die Möglichkeit, einmal am Tag via Skype die Asylbehörde anzurufen und einen Asylantrag zu stellen. Es befinden sich derzeit 50.000 Flüchtlinge in Griechenland, die allesamt auch Angst vor der Zurücküberstellung in die Türkei haben und deshalb einen Asylantrag stellen werden, und die griechischen Behörden sind darauf schlichtweg nicht ausgerichtet.
    Büüsker: Wenn wir diese Situation vor Ort nehmen und daraus Rückschlüsse auf die deutsche Flüchtlingspolitik gucken, kann man dann sagen, dass es in gewisser Weise eine Art Umkehr gab von Merkels "Wir schaffen das" zu einem "Die anderen schaffen das schon irgendwie"?
    Amtsberg: "Wir schaffen das" war eine Formulierung, die sich darauf bezog, dass Flüchtlinge in Europa nicht an den Grenzen aufgehalten wurden. Mit dem EU-Türkei-Gipfel, aber auch mit der Schließung der Balkanroute, stellt sich natürlich ein ganz anderes Bild ein. Es kommen weniger Menschen, das haben die Zahlen gestern auch gezeigt, die veröffentlicht wurden vom Innenministerium, und insofern ist dieser Satz natürlich jetzt komplett neu zu bewerten. Ich glaube, dass gerade mit Blick auf die Zahlen von gestern es unglaublich wichtig ist, dass die Bundesregierung jetzt ihr Versprechen einlöst, das im Kontext der Kommission getroffen wurde mit den anderen europäischen Staaten, 160.000 Menschen in der europäischen Union zu verteilen, denn unsere Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland haben die Kapazität. Es spricht also überhaupt nichts mehr dagegen, diesen europäischen gemeinsamen Weg zu wählen.
    Büüsker: Jetzt haben Sie es selbst gesagt: Es kommen weniger Menschen nach Europa und damit auch weniger Menschen nach Deutschland. Also aus deutscher Perspektive läuft es eigentlich ganz gut.
    Amtsberg: Das hängt natürlich vom Betrachterpunkt ab. Ich weiß, wo die Menschen sind, insofern würde ich sagen, nein, es verhält sich natürlich nicht gut für die Schutzsuchenden selbst. In Deutschland trägt es derzeit zu einer Entspannung der Lage bei, nur ich sage noch mal, die Bundesregierung hat die Pflicht, entsprechend mit der Situation in Europa umzugehen und sich darauf nicht zu verlassen, dass die Türkei und Griechenland das jetzt alleine regeln. Das wäre der vollkommen falsche Weg, weil der wird sich in zwei, drei Monaten sowieso als nicht tauglich erweisen.
    Büüsker: Aber es gibt ja viele in Deutschland, die wollen, dass weniger Flüchtlinge hierherkommen, was man auch am aktuellen ARD-Deutschlandtrend ablesen kann, wo die AfD immer weiter zulegt.
    Amtsberg: Das ist sicher richtig, trotzdem muss man sich natürlich die Lage angucken: Wenn man Flucht vermeiden möchte, wenn man weniger Flüchtlinge haben möchte, dann muss man bei den Fluchtursachen ansetzen, außenpolitische Maßnahmen ergreifen. Ich sage auch ganz deutlich, es ist natürlich richtig, auch mit der Türkei gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Die Türkei war auch immer Teil der Lösung. Sie hatte ganz am Anfang schon Millionen von Flüchtlingen aufgenommen. Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass wir das menschenrechtlich vertretbar gestalten müssen, und da hätte ich mir gewünscht, dass die Bundesregierung statt eine Vereinbarung mit der Türkei einfach zuzustimmen, ohne das menschenrechtlich zu kontingentieren, zum Beispiel dafür zu sorgen, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention umsetzt – das wären richtige Schritte gewesen – und natürlich sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass wir unsere Aufnahmekapazitäten steigern, indem wir gemeinsam aufnehmen.
    Büüsker: Jetzt haben Sie die Türkei angesprochen. Es gibt sehr viel Kritik gegen die Türkei im Moment wegen ihres Umgangs mit politisch Andersdenkenden, wegen des Kurdenkonflikts, wegen des Umgangs mit Pressefreiheit. Die Regierung Erdogan hat sich da nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, und trotzdem setzt die EU auf diese Türkei. Geben wir da unsere eigenen Werte auf?
    Amtsberg: Ja, wir geben unsere eigenen Werte auf, und wir machen uns auch erpressbar, denn alles, was dort passiert, dass diese ganze Vereinbarung funktioniert, ist darauf ausgerichtet, dass die Grenzen dicht bleiben, dass Erdogan bereitwillig Flüchtlinge zurücknimmt, und wenn er dazu irgendwann nicht mehr Lust hat, dann erweist sich dieses ganze Modell als nicht wirksam. Insofern machen wir uns natürlich in hohem Maß erpressbar. Für die Menschenrechtslage oder mit Blick auf die Menschenrechtslage in der Türkei muss man auch sagen, es geht auch nicht nur um die Menschen selbst in der Türkei, sondern auch um den Umgang mit Flüchtlingen durch die Türkei, die dort eben nicht entsprechenden Rechtsschutz genießen, keinen wirklichen Asylstatus haben, keine dauerhafte Perspektive. Insofern zweifle ich sehr stark da dran, dass dieses Abkommen dauerhaft funktionieren wird. Deshalb ist es umso wichtiger, auf europäischer Ebene weiter an Lösungen zu arbeiten und nicht jetzt aufzuhören, sich da zu bemühen.
    Büüsker: Aber eine gemeinsame europäische Asylpolitik scheint zum derzeitigen Zeitpunkt weiter weg denn je.
    Amtsberg: Ja, und das ist das Ergebnis dieser Politik. Jetzt haben sich alle Westbalkanstaaten auf die Schließung der Route geeinigt, was jetzt in Europa dazu führt, dass wir gut sagen können, ja, unsere Maßnahmen haben dazu geführt, weniger Flüchtlinge kommen her – das ist kein Weg, der dauerhaft funktionieren wird, wenn wir voll und ganz auf die Türkei setzen. Das heißt, wir brauchen eine Verteilung in Europa, da muss weiter geworben werden. Es kann nicht sein, dass sich manche Staaten komplett aus dieser Verantwortung herausziehen. Es gibt jetzt auch immer noch die Möglichkeit, durch ein Resettlementprogramm aus der Türkei aufzunehmen. Man darf auch nicht vergessen, es gibt noch wahnsinnig viele Menschen innerhalb Europas, die an den Grenzen festhängen. Ob jetzt in Idomeni, 50.000 Asylsuchende in Griechenland oder eben in einzelnen Ländern auf der Westbalkanroute. Das ist kein Zustand, der uns zum Nichtstun animieren sollte, sondern im Gegenteil, das ist eine Momentaufnahme. Wir haben die Verpflichtung, weiterhin dafür zu werben unter den europäischen Staaten, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, und zwar gemeinsam. Dann kann man sicher auch mit der Türkei an vernünftigen Stellen zusammenarbeiten.
    Büüsker: Sagt Luise Amtsberg, sie ist flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen. Frau Amtsberg, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
    Amtsberg: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.