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Proteststimmung online

Zehntausende demonstrierten in Russland gegen die Ergebnisse der Parlamentswahl. Während Wladimir Putin, Premier und Präsidentschaftskandidat 2012, sich über sein Lieblingsmedium Fernsehen an das Volk wendet, vernetzen sich die Gegner seiner Partei vor allem über das Internet.

Von Mareike Aden | 15.12.2011
    Eine Sondereinheit der Polizei steht bereit vor der Haftanstalt am Simferolpelskij Boulevard im Süden von Moskau. Sie ist hier stationiert, weil drinnen immer noch Dutzende Oppositionelle inhaftiert sind. Sie wurden festgenommen bei Protesten gegen die Wahlfälschungen, ihr Arrest dauert 15 Tage.

    Aktivisten des liberalen gemäßigten Oppositionsbündnisses Solidarnost kommen jeden Abend hierher. Nacheinander stellen sie sich zum Einzelprotest vor der Einfahrt zur Haftanstalt auf, schweigend – das ist im Rahmen des Gesetzes. Auf einem Plakat fordern sie die Freilassung der Gefangenen.

    "Diese ständigen Verhaftungen sind eine gezielte Strategie der Mächtigen: Sie wollen damit Druck ausüben auf alle, die eine andere politische Meinung haben. Wer sich politisch betätigt, soll Angst haben und eingeschüchtert werden. Auch ich wurde oft festgenommen, sogar bei den eigentlich erlaubten Einzelprotesten."

    sagt Mikhail Schnayder, der gerade das Plakat in die Höhe streckt. Er ist Lehrer, 63 Jahre alt und sitzt im Vorstand von Solidarnost. Für mehr Demokratie in Russland kämpft er schon seit 25 Jahren. Von weiten Teilen der russischen Gesellschaft wurden er und seine Mitstreiter lange belächelt oder ignoriert, aber nun sehen Zehntausende das System Putin ebenso kritisch. Die Gesellschaft wacht auf, sagt Michail Schnayder. Eine große Rolle dabei spiele das Internet.

    "Vor 25 Jahren ohne das Internet war unsere Arbeit anders – wir haben über Telefonketten Menschen über Aktionen und Proteste informiert. Twitter, Facebook und andere Onlineplattformen ersetzen diese Telefonketten - das hilft uns sehr. Meinen Blog im Internet schreibe ich unter dem Namen "Agitator der Massen– ich will die Menschen wecken. Und das klappt immer besser – die Menschen in Russland ändern sich."

    Im Arbeitszimmer von Michail Schnayder stehen viele schwarze Ordner: In ihnen hat er Dokumente aus 25 Jahren Oppositionsarbeit abgeheftet, darunter handgeschriebene Einladungen zu Protesten, die dann mühsam kopiert und verteilt wurden. Heute spielt sich bei ihm alles online ab: Bei Facebook stellt Mikhail Schnayder Fotos von Aktionen ein und diskutiert mit anderen.

    Lange vor den Wahlen brodelte die Proteststimmung bereits im Internet, aber zunächst blieb sie dort: Erst jetzt zeigt sie sich auch auf der Straße, junge Menschen beginnen, sich für Politik zu interessieren.

    Für die russische Opposition ist das Internet unverzichtbar geworden. Dort werden die Proteste angekündigt und wenn das Organisationskomitee Pläne schmiedet für die nächste große Demonstration, kann man online live dabei zuschauen. Die Treffen werden per Videostream übertragen.

    Einiges deutet daraufhin, dass Kreml und Geheimdienst die Macht des Internets unterschätzt haben, sagt Aleksej Muchin, Direktor des Moskauer Zentrums für Politische Information.

    "Es gab Überlegungen das Internet stärker zu kontrollieren und der Geheimdienst wurde von den Mächtigen damit beauftragt – aber umgesetzt wurde das zunächst nicht. Die Domains die auf "ru" enden kann der russische Geheimdienst unter Kontrolle bekommen, aber bei internationalen Seiten mit "com" oder "org"-Domains ist das anders."

    Aber mitlesen, was Internetnutzer in Russland schreiben und welche Seiten sie besuchen, das kann der Geheimdienst. Internetanbieter müssen das sogenannte SORM-System installieren und dem Geheimnisdienst unbeschränkt und ohne Gerichtsbeschluss Zugang auf die damit gewonnenen Daten wie IP-Adresse, Inhalt eines Mailverkehr oder Meldeadresse gewähren. Bisher hat das russische Internetnutzer jedoch nicht eingeschüchtert.

    Sorgen bereitet den Oppositionsanhängern aber, was sie am Wahltag erlebten: Mehrere unabhängige Medien und eine beliebte Bloggerplattform waren stundenlang offline – zurückgeführt wurde das auf Hackerangriffe.

    Präsident Dmitri Medwedew teilte nun auf seiner Facebook-Seite mit, er sei zwar nicht einverstanden mit den Massenprotesten und dem Vorwurf der Wahlfälschung, er lasse aber dennoch prüfen, ob es Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen gegeben habe.

    Doch offline ist davon bislang nichts festzustellen: Bei einem Treffen mit den Duma-Fraktionen, ließ er von Zweifeln an den Ergebnissen nichts verlauten. Und so erntet der Präsident in tausenden Kommentaren auf seiner Facebook-Seite vor allem Spott, Häme und Wut.