Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Prototyp des distanzierten Intellektuellen

"Ginster" von Siegfried Kracauer zählt zu den Antikriegsromanen der Weimarer Zeit. Als Hörbuch ist es ein willentlich pazifistischer Roman, eine unabweisbar deutliche Kritik der spätwilhelminischen Gesellschaft; im weit ausführlicheren Buch rückt das Gesellschaftskritische in den Hintergrund.

Von Florian Felix Weyh | 12.09.2013
    Die Heimatfront steht. Resolute wilhelminische Damen debattieren auf vaterländischen Kaffeekränzchen strategische Fragen, und aus Altersgründen nicht mehr wehrfähige - oder grundsätzlich wehrunwillige - männliche Honoratioren belagern junge Männer mit der drängenden Frage, wie sie zum Krieg stünden?

    "Der Krieg ist sehr laut", gab Ginster zu, "die Soldaten, man kann ums Leben kommen – aber ich halte ihn nicht für so wichtig. Warum beschäftigen sich jetzt alle Leute mit Patriotismus. Seit rechts im Osten ein Stück Land vom Gegner besetzt worden ist, jammern sie, als gehöre es ihnen privat. Früher haben sie sich um das Stück Land gar nicht gekümmert. Ich kann doch keine Gefühle für etwas aufbringen, das ich nicht kenne."

    Das ist unerhört in diesem Jahr 1914: Ein Mann steht abseits und beobachtet nur, wie sich das Militärische übers Zivile stülpt - übers Humane sowieso:

    "Mir geht es ganz gut" - Otto hob auf merkwürdige Weise den einen Arm - "die ununterbrochene körperliche Tätigkeit" - Ottos Kopf machte einen plötzlichen Ruck nach rechts - "anständige Vorgesetzte" - wieder der eine Arm - "wenn ich aus dem Krieg zurück bin" - der ganze Körper Ottos erstarrte - "nicht mehr so viel über den Büchern" - scharfe Wendung nach links. Sie haben ihn ganz ins Rechteck gezwungen, dachte Ginster, ein Automat. Bei jeder zweiten Uniform ging der Arm in die Höhe. Er wurde nicht von Otto geschwungen, sondern flog selbsttätig auf. Otto hätte die Uniformen gar nicht erkannt. Der Arm musste ihm eingesetzt worden sein, mit Rädchen im Körper.

    Man ahnt schon, dass Otto nicht mehr lange leben, sondern als menschlicher Kriegsapparat verschlissen werden wird, während sein lethargischer, passiver, zur Begeisterung gänzlich unfähiger Freund unbeschadet über die gefährlichen vier Jahre kommt. Ginster ist der Prototyp des distanzierten Intellektuellen, immer abwägend, nie gestaltend, wiewohl sein Beruf als Architekt Gestaltungswillen eigentlich voraussetzt. Der findet sich bei Ginster nur in einer Art geometrischer Metaphorik, wenn er Soldaten als rechteckig beschreibt, so wie er überhaupt dingliche Metaphern fürs Menschliche bevorzugt. Handwerker sehen "wie Kleingeld" aus, und beim Tanztee empfindet er sich selbst als "verwaistes Zweckinstrument". Ein alerter Konkurrent hingegen erscheint ihm als "ein Gemisch aus Salonmusik und geölter Leichtmechanik". Notgedrungen trennt ein solcher Blick auf die Welt den Protagonisten von eben dieser Welt ab. Sie liegt gewissermaßen auf Kasernenspindmaße zusammengefaltet vor ihm.
    Ginster trug seine Anzüge schlecht, darum wurde ihm Hay von der Mutter immer wieder als Vorbild hingestellt. Man hängt die Anzüge abends stets über den Bügel. Vermutlich hing Hay selbst über dem Bügel, er war sicher wie eine gut sitzende Hose.

    Siegfried Kracauers belletristischer Erstling von 1928 zählt zu den Antikriegsromanen der Weimarer Zeit, unterscheidet sich aber deutlich von den berühmten Werken Erich Maria Remarques oder Ludwig Renns. Vergleichbar mit Ernst Glaesers "Jahrgang 1902" - im selben Jahr wie "Ginster" erschienen -, erlebt man statt des Frontgemetzels den hohlen, langsam in sich zusammensackenden Patriotismus des Hinterlands, wo zwar kriegsbedingter Mangel, aber kein Schrecken herrscht - sieht man von der Drohung ab, doch noch eingezogen zu werden. Standen bei Glaeser Jugendliche im Mittelpunkt, schuf sich Kracauer in der Figur des Ginster ein hoch reflektiertes Alter Ego, das ihm jenseits der Realismusforderungen seiner Zeit sarkastische Verzerrungen erlaubte.

    Gegen Ende des Winters beteiligte sich Herr Valentin an einer Architekturkonkurrenz. Die Konkurrenz war von der Stadt öffentlich ausgeschrieben worden, zugunsten der toten Soldaten und der Not leidenden Architekten. Ein Ehrenfriedhof. Es gab eine Menge endgültig an der Heimkehr verhinderter Soldaten, die früher in der Stadt gewohnt hatten. Ihre Angehörigen wollten sie wieder haben; wenn nicht lebendig, so doch die Leichen. Auch mussten sich die Soldaten selbst in schönen Gräbern zu Hause wohler fühlen als draußen.

    Das schmeckt nach bitterster Galle, und Michael Rotschopf bringt den subtil-bösartigen Kracauer hier auf den Punkt. Doch wer - wie der Rezensent - zufälligerweise mit dieser Hörbuchversion beginnt, dann zum Buch hinüber wechselt, dann wieder mit dem Hörbuch weitermacht, erlebt zwei verschiedene Werke. Ein Text lässt sich allein durch Kürzungen literarisch umcodieren! "Ginster" als Hörbuch ist ein willentlich pazifistischer Roman, eine unabweisbar deutliche Kritik der spätwilhelminischen Gesellschaft; im weit ausführlicheren Buch rückt das Gesellschaftskritische in den Hintergrund, die Verschrobenheit der Figur tritt nach vorne. Wie nebenbei ereignet sich Geschichte im flaneurhaften, feuilletonistisch anmutenden Buch, und man bestaunt - hat man das Hörbuch zuerst entdeckt - Kracauers gesuchte Metaphern und präzise Beschreibungen, die in der Vortragsfassung häufig fehlen. Selbst eine so schöne Szene, wie man zu viert militärisch korrekt eine Tragbahre anhebt, erscheint dem Bearbeiter entbehrlich. Beide Darbietungsarten entwickeln ihren eigenen Sog, nur sind sie kaum miteinander kompatibel.

    Übrigens verstand Ginster nicht recht, warum alle ihren Stolz darein setzten, den jetzigen Krieg einen Weltkrieg zu nennen. Er hegte den Verdacht, dass das Wort Welt ihnen Begeisterung einflößte; unter Weltstädten taten sie es ebenfalls nie.

    ... und in die Falle der "Weltliteratur" sollte man, vom Autor sensibilisiert, jetzt nicht tappen. Doch ganz gleich, wie man den belletristischen Siegfried Kracauer kennenlernt, einer Wiederentdeckung ist er allemal wert. In Ginsters Haltung der stillen Verweigerung bar jedes revolutionären Gestus versteckt sich nämlich ein Rezept für die Moderne. Angestellte machen keine Aufstände mehr. Angestellte verblassen einfach, bis das, was sie stört, durch mangelnde Unterstützung eingegangen ist. Eine Armee aus Ginsters würde einfach stehen bleiben.

    Trotz seiner achtundzwanzig Jahre verabscheute Ginster die Notwendigkeit, ein Mann werden zu müssen. Sämtliche Männer, die er kannte, hatten feste Ansichten und einen Beruf; viele überdies Frau und Kinder. Ihre Unnahbarkeit erinnerte an die von symmetrischen Grundrissen, die in nichts verändert werden konnten. Immer stellten sie etwas vor und vertraten etwas. Im Gespräch mit ihnen war über manche Dinge Schweigen geboten, ihre Würde verlangte das, sie glichen Ländern mit Grenzen. Niemals gaben sie sich auf. Ginster fand sie beinahe unappetitlich; lauter schwere Körpermassen, die sich selbstsicher behaupteten und gegen eine Aufteilung sträubten. Er selbst wäre zum Unterschied von ihnen gerne gasförmig gewesen, jedenfalls vermochte er sich nicht auszudenken, dass er einmal zu solcher Undurchdringlichkeit gerann.

    Siegfried Kracauer: "Ginster"
    Roman
    Suhrkamp Verlag, 344 Seiten, 22,95 Euro

    sowie

    Bearbeitete Fassung von Ruthard Stäblein
    Gelesen von Michael Rotschopf ,
    Osterwold Audio, 4 CDs, 19,95 Euro