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Provokante Politsatire

Die Gattungsbezeichnung "Roman in fünf Satiren" und die zeitlich genaue Festlegung der Handlung auf die Jahre 1992 und 1993 verweisen auf das deutliche zeitkritische Anliegen des Werks. Es ist ein Buch über jene "Zeit der Wirrnis" zwischen den Jahrtausenden, "jenes unsichtbare Jahrzehnt, über die Welt ohne Strukturen, über den Spalt, in den pfeifend die Zeit verfließt, in den rauschend der Raum sich ergießt"- wie es im Roman heißt. Das Buch ist der Versuch der geistigen Durchdringung der Jahre nach der großen Wende mit den Mitteln der provokativen Politsatire.

Von Karla Hielscher | 26.02.2004
    Diese Jahre, die neunziger Jahre, in denen nun wirklich entscheidende Veränderungen in der Welt, in der wir leben, vor sich gegangen sind, die sind praktisch bis jetzt nicht durchdacht worden. Wir haben uns völlig verändert, aber die Kategorien, mithilfe derer wir weiterhin alles erklären, sind die alten geblieben. Und ich habe unter anderem versucht, diese Kategorien ad absurdum zu führen. Damit der Leser, der den Mut und die Fähigkeit dazu hat, zurückschauen und das, was ihm in unserer Welt als selbstverständlich erscheint, überprüfen kann.

    Wie macht der Autor das? Wie führt er die gängigen Kategorien ad absurdum? Ich-Erzähler ist der russisch-jüdische Schriftsteller Julik Goldstein, der vom Nürnberger Stipendienfond "Kulturbunker E.V." ein Arbeitsstipendium für ein Jahr bekommen hat. Da allerdings nur noch ein Frauenquotenplatz zu vergeben war, verkleidet er sich, schminkt sich, rasiert sich die Beine und gibt sich als Frau aus. Um sich nicht durch seine Stimme zu verraten, muss er die Stumme spielen, und der zuständige Kulturdezernent ist glücklich darüber, dass er mit diesem Kandidaten endlich auch einmal die längst überfällige Behindertenquote erfüllen kann.

    Hier wir schon deutlich, dass Jurjew in diesem Buch sehr bewusst jegliche political correctness parodistisch auf die Spitze treibt und verlacht. Goldstein bekommt einen Platz in dem erzgebirgischen Grenzort "Judenschlucht" oder tschechisch "Zidovska Uzlabina", an dem noch kürzlich die DDR, Westdeutschland und die Tschechoslowakei zusammenstießen, und der nun zum imaginären Bewußtseinsort der Grenzverschiebungen und Entgrenzungen, der skurilen, nachdenklichen und irrwitzig komischen Ost-West-Spiegelungen wird.

    Goldstein verfolgt zwei Forschungsprojekte, die die Sujetlinien des Romans bilden, und die ihn zu Recherchen nach Petersburg, ins ehemalige "Skythopartien", und ins neue Rom, nach New York führen. Er ist auf der Suche nach den Spuren jenes Klumpens Ton, aus dem nach der Golemlegende von der Belebung toter Materie die Nazis eine Geheimwaffe entwickeln wollten, für den sich nach dem Krieg aber auch Russen und Amerikaner brennend interessierten. Und er erforscht die Geschichte eines in diesem Grenzbereich ansässigen chasarisch-jüdischen Stammes, der den seltsamen Brauch eines Krieges der Kinder und Greise gepflegt hatte.

    Der Ich-Erzähler beobachtet vom hohen Turm seines Kulturbunkers aus, was sich auf dem Marktplatz des Grenzstädtchens tut, wo der Besuch des "neuen Caesars", also des amerikanischen Präsidenten erwartet wird. Die - wie immer bei Oleg Jurjew - strenge formale Struktur ist aber nur das Gerüst für einen überbordenden, wild wuchernden phantastischen Abenteuer-Roman, in dem die Zeiten und Orte durcheinander gewirbelt werden, in dem ein Panoptikum seltsam verrückter Gestalten auftritt und in dem ungeheuer genau beobachtete Details des gegenwärtigen Alltags und absurde Gedankenspiele, echte historische Quellen und Mystifikationen sich zu einem dicht gewebten literarischen Textmuster verbinden: Diese wie ein Feuerwerk im Kopf aufsteigenden "wundersam geschweiften Gedanken über Europa, das nirgends ist, und über seine unsichtbaren Einwohner, die ewigen Greise beiderlei oder keinerlei Geschlechts!"

    Gegenüber - im antiken Bergfried - wohnt und arbeitet der amerikanische Schriftsteller Julien Goldstein aus Cincinnati, der Held der westlichen Welt unserer Zeit, Doppelgänger und alter Ego des Ich-Erzählers, der wiederum eigentlich eine Frau ist, und in seinem Buch The Age of the Great Change seine Theorie dargelegt hat, "der zufolge jedes Individuum der neuen westlichen Menschheit nicht nur das Recht hat, sondern auch geradezu die Pflicht, im Interesse der Zivilisation, des Fortschritts und der Humanität alle wesentlichen Attribute der Rassen, der Religionen und der beiden Geschlechter in sich zu vereinen."

    Jurjew realisiert das in seinem Text durch ein burleskes, irisierendes Changieren der Figuren aus aller Herren Länder, ein Cross-over zwischen den Geschlechtern, den ethnischen Zugehörigkeiten, zwischen Toten und Lebenden. Es gibt keine eindeutigen Identitäten mehr, alle Konturen verwischen sich, alle festen Strukturen sind in Auflösung. Dazu Oleg Jurjew:

    Das ist natürlich eine Übergangszeit, eine Zeit, in der sich alles verändert hat, wo das eine Weltbild, das bestimmt war in Kategorien der gesellschaftlichen, ideologischen, politischen Widersprüche von zwei Systemen plötzlich verschwand. (...) Aber das ist sehr wichtig: dieser Wandel der Kategorien. (....) Die kulturellen Eliten, die - mit der ihnen zur Verfügung stehenden Sprache - sozusagen das Monopol auf die kategoriale Beschreibung des Geschehens haben, die benutzen im Prinzip weiter die alte Sprache. Ihre Beschreibung versucht sich gleichsam den neuen Verhältnissen anzupassen. Und das führt zu immer größeren Brüchen zwischen der Realität und der Sprache der Beschreibung. Und das ist ein Prozess, den ich für gefährlich halte.

    Während nämlich weiter in den bis dahin herrschenden Begriffen gedacht wird, sind längst an der leeren Stelle aus dem kollektiven Unbewussten verschwunden geglaubte Klischees, Ansichten, Weltbilder und Denkweisen wieder auferstanden und bestimmen die Realität der Gegenwart: Nationalismen aller Art und imperiale Großprojekte wie das neue römische Reich Amerikas oder die Utopien vom geeinten Europa. Und so arbeiten Jurjews Satiren mit einer Überlagerung der Zeiten, einem Ineinander der geschichtlichen Epochen, weisen historische Parallelen auf, die verwirren und beunruhigen. Die gängigen Klischeevorstellungen über westliche und östliche Völker, über nationale Mentalitäten und Kulturen werden aufgeboten und in einer bilderreichen, metapherngesättigten Sprache auf die Spitze getrieben. Es entsteht ein irritierender Text, der eine bizarre Mischung aus realer Zeitsatire und Märchen, scharfsinnigem Essay und autobiographischer Familiengeschichte, Archivforschung mit echtem und mystifiziertem Dokumentenmaterial, aus Haseks vergnüglichem "Schwejk" und Célines bedrohlicher "Reise ans Ende der Nacht" darstellt. Es ist der Blick des Außenseiters Jurjew nun eben nicht auf Russland, wo der Leser ja jede Absurdität und Exotik zu akzeptieren bereit ist, sondern auf den geistigen Zustand Deutschlands und Europas.

    Allerdings ist der Text von einer solchen Dichte und Überfülle der Anspielungen und Assoziationen, der sich überschlagenden Witze, Sprachspiele, Anekdoten und Kuriositäten geprägt, dass eine Art bedeutungsüberladene intellektuelle Fantasy-Welt entsteht, die den Leser oft ratlos lässt. Dabei ist es Oleg Jurjew sehr wichtig, nicht als postmodernistischer Spieler missverstanden zu werden.


    Wenn wir die Postmoderne als ein gewisses Gefühl der Sinnlosigkeit der Literatur betrachten, mit der der Schriftsteller leben muss in einer Welt, in der schon alles gesagt ist, und es existieren nur Verfahren, die der Schriftsteller irgendwie kombinieren muss, dann hab ich damit wirklich überhaupt nichts zu tun. Weil ich irgendwie aus Russland das absolut irrationale Gefühl mitgebracht habe, dass das nicht so ist, dass das, was ich schreibe kein Spiel ist. Spiel, das ist nur eins der technischen Mittel.

    In diesem Buch hat Jurjew - scheint mir - den Mechanismus des literarischen Verfahrens "Spiel" gegen seine eigene künstlerische Absicht bis zum Zerspringen überdreht.

    Oleg Jurjew
    Der neue Golem
    Suhrkamp, 277 S., EUR 17,50