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"Prozentuell waren die Österreicher tätiger als die Deutschen"

"Hauptstadt des Vergessens" nannte der Schriftsteller Robert Schindel seine Heimatstadt Wien einmal. Dass sich inzwischen "nur" noch 43 Prozent der Österreicher als Opfer des Naziregimes sehen, stimmt ihn optimistisch. Trotzdem seien viele Österreicher "hervorragende Antisemiten" gewesen.

Robert Schindel im Gespräch mit Friedbert Meurer | 13.03.2013
    Friedbert Meurer: Der 15. März 1938 markiert einen Tiefpunkt in der Geschichte Österreichs. Truppen der Wehrmacht marschieren in Wien ein. Das war vorerst das Ende des eigenen Staates Österreich, besiegelt am 13. März 1938, heute vor 75 Jahren, im Reichsgesetzblatt in Berlin. Alle haben in Erinnerung die Jubelbilder vom Wiener Heldenplatz. 250.000 Österreicher, schätzte man, bejubelten Adolf Hitler, den gebürtigen Österreicher aus Braunau am Inn, der sie heim ins Reich holte. In diesen Tagen und Wochen setzt bei unseren Nachbarn die Diskussion wieder ein: War das Land wirklich nur Opfer nazideutscher Aggression?

    Robert Schindel ist österreichischer Schriftsteller, 1944 geboren, als Sohn jüdischer Eltern. Der Vater wurde im KZ Dachau 1945 ermordet. Guten Morgen, Herr Schindel, nach Wien!

    Robert Schindel: Guten Morgen!

    Meurer: Sie haben Ihre Heimatstadt Wien einmal als "Hauptstadt des Verdrängens" bezeichnet.

    Schindel: Des Vergessens!

    Meurer: Sagen Sie das heute noch?

    Schindel: Ich habe sie als "Hauptstadt des Vergessens" und nicht des Verdrängens bezeichnet, was schon ein Unterschied ist, und das hat sich verändert. Das hat sich eben im Zuge von zwei Ereignissen verändert: Das waren die Waldheim-Jahre und es war die schwarz-blaue Regierung 2000, die einen Teil Österreichs gezwungen hat, sich mit der Vergangenheit und mit der nicht ausgesprochenen Fortsetzung nationalistischer Ideologien auseinanderzusetzen.

    Meurer: Was ist der Unterschied, Herr Schindel, zwischen Vergessen und Verdrängen?

    Schindel: Na ja, Verdrängen ist ein aktiver Prozess des Unbewussten, ein unbewusstes Wegschieben, während Vergessen geht mehr in die Richtung der Selbstvergessenheit, des nach vorne Schauens und des sich nicht mehr dafür Interessierens und des deshalb Vergessens.

    Meurer: Ist Vergessen schlimmer als Verdrängen?

    Schindel: Ja, das ist viel schlimmer. Verdrängen ist quasi ein Prozess, der besser rückgängig gemacht werden kann, etwa indem man es durcharbeitet, aufarbeitet, wieder bewusst macht. Jemand, der bewusst Sachen vergisst, weil er sich nicht mehr daran erinnern will, der ist auch schwer dazu zu bringen, sich zu erinnern.

    Meurer: Wenn heute 43 Prozent der Österreicher sagen, wir waren Opfer, könnte man ja auch sagen, nur noch 43 Prozent, weniger als die Hälfte. Stimmt Sie das optimistisch?

    Schindel: Das stimmt mich schon optimistisch. Die Geschichte mit der Opferthese hat ja zwei Seiten. Die eine Seite ist, dass ein Teil davon ja stimmt. Es ist ja zu einer Annexion gekommen und es gab ja auch ein Lager in Österreich, das das auch immer so gesehen hat und die immer gegen den Anschluss waren, also nicht nur die Monarchisten, sondern die Sozialdemokraten, die haben das auch tatsächlich als einen Überfall und eine Annexion empfunden. Und damit konnte dann auch eine Politik gemacht werden natürlich. In der Nachkriegsordnung war es natürlich günstiger und die Politiker waren ja freie Leute und haben sich auf diese Opferthese natürlich gestürzt. Das heißt: Der Teil, der gestimmt hat, den haben sie verabsolutiert und damit die Bevölkerung, auch die nachwachsende Bevölkerung bewusst und unbewusst davon abgehalten, sich mit ihrer Täter- und Mittäterschaft Österreichs auseinanderzusetzen.

    Meurer: Viele in Deutschland neigen vermutlich dazu zu sagen, Österreicher waren genauso Täter wie die Deutschen, Hitler war Österreicher, der Jubel auf dem Heldenplatz. Was sagen Sie uns Deutschen?

    Schindel: Ja ich glaube, prozentuell waren die Österreicher tätiger als die Deutschen, wenn man sozusagen den Prozentsatz da ansieht. Ich würde sozusagen sagen: Dadurch, dass die Österreicher hervorragende Antisemiten waren, wenn auch keine so guten Nationalsozialisten im Unterschied zu den Deutschen, die hervorragende Nationalsozialisten, aber nicht so gute Antisemiten waren. Und so haben sich sozusagen die Brüdervölker ganz gut damals zueinandergefunden.

    Meurer: Vor 75 Jahren wurde Österreich von Deutschland einverleibt, die Jubelbilder vom Wiener Heldenplatz bleiben in Erinnerung – ich sprach mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Schindel. Danke schön und auf Wiederhören nach Wien.

    Schindel: Danke auch.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.