Freitag, 29. März 2024

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Prozess-Auftakt gegen türkische Journalisten
"Die Stimmung ist sehr aufgeladen"

Beim Prozess-Auftakt gegen Mitarbeiter der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" sei es schwierig gewesen in den Gerichtssaal zu gelangen, sagte der SPD-Europapolitiker Arne Lietz im Dlf. Europa müsse aber "Flagge zeigen" und sich zur Zivilgesellschaft und den Journalisten bekennen.

Arne Lietz im Gespräch mit Christine Heuer | 24.07.2017
    Der SPD-Europaabgeordnete Arne Lietz spricht am 23.04.2016 während des Landesparteitages der SPD in der Stadthalle in Burg (Sachsen-Anhalt).
    "Die Richter machen einen sehr selbstgefälligen Eindruck", sagte der SPD-Europaabgeordnete Arne Lietz nach einem ersten Prozesseindruck. (picture alliance/dpa - Jens Wolf/dpa)
    Christine Heuer: In Istanbul, und zwar tatsächlich im Gerichtsgebäude begrüße ich Arne Lietz, der für die SPD im Europaparlament sitzt als Abgeordneter. Guten Tag, Herr Lietz!
    Arne Lietz: Schönen guten Tag nach Deutschland!
    "Es war sehr schwierig, überhaupt reinzukommen"
    Heuer: Sie sind in die Türkei gereist, um diesen Prozess zu beobachten. Man hat Sie tatsächlich reingelassen, in den Gerichtssaal auch, habe ich gehört im Vorgespräch. Welche Eindrücke haben Sie da gewonnen, Herr Lietz?
    Lietz: Ich bin hier zusammen mit meiner Abgeordnetenkollegin Rebecca Harms vom Bündnis 90/Die Grünen, und es war sehr schwierig, überhaupt reinzukommen. Man brauchte unglaublich lange, und es gab ein Riesengedränge. Die Anhörung hat jetzt begonnen. Nachdem die Personalien aufgenommen wurden, gab es bereits die ersten Verteidigungen der Angeklagten. Sie haben sich verteidigt, dass sie beispielsweise ja der Terrororganisation entweder zugehörig oder für sie Propaganda machen sollten oder gemacht haben, und die haben sich verteidigt und haben gesagt, dass sie beispielsweise gegen diese Terrororganisation auch Zeitungsartikel geschrieben haben und davor gewarnt haben, weil sie die Demokratie der Türkei gefährden, also genau das Gegenteil von dem, was die Anklage hier gegen sie aufmacht. Das zeigt schon, wie absurd dieses Theater, dieser Schauprozess, der ein politischer Prozess ist hier, ist.
    Heuer: Wenn die Angeklagten sofort in die Selbstverteidigung gehen, was heißt das, welchen Eindruck machen die auf Sie, wie angespannt sind diese Angeklagten?
    Lietz: Die Stimmung ist sehr aufgeladen. Auch im Saal selber sind viele Menschen, die dort stehen, es ist stickige Luft, es ist sehr heiß. Es kamen nicht alle Richter rein, auch nicht alle Familienangehörigen. Von daher große Enttäuschung aufseiten der Familien, der Redaktionen und der Anwälte, die teilweise noch vor dem Saal stehen. Nichtsdestotrotz sind sie sehr mutig und sehr selbstbewusst, so wie ich auch gestern in der Redaktion den amtierenden Chefredakteur getroffen habe, der seinerseits auch mehrere Jahre in Haft war, auch in Deutschland im Exil und sechs Jahre da schon auf dem Buckel hatte, auch er ist angeklagt, und er ist sehr selbstbewusst, und das sind die Journalisten hier auch, und das ist auch wichtig, und deswegen ist dieses Zeichen der Solidarität, die ich auch hier mitbringe von der SPD aus, vom Willy-Brandt-Haus, von Bundestagskollegen, aus dem Europaparlament, aber auch hier mit meiner Kollegin sehr, sehr wichtig. Hier müssen wir Flagge zeigen, dass Europa zur Zivilgesellschaft, zu den Journalisten steht.
    "Die Richter machen einen sehr selbstgefälligen Eindruck"
    Heuer: Darf ich Sie auch fragen, welchen Eindruck die Richter auf Sie machen, Herr Lietz?
    Lietz: Die Richter machen einen sehr selbstgefälligen Eindruck. Ich kann es schwer einschätzen. Ich war jetzt eine Stunde mit drin. Es dauerte sehr lange. Der Prozess verzögerte sich, nachdem erst einmal verschiedene Sachen festgestellt werden mussten. Mir wurde aber von einer Prozessbeobachterin, einer Richterin, einer Anwältin gesagt, dass sie überrascht ist, welche Richter da jetzt auch wohl das Gericht führen, also Hardliner gegenüber Pressefreiheit, und von daher ist das beispielsweise kein gutes Vorzeichen. Ich habe den Eindruck, dass, was Bundespräsident Steinmeier berechtigt gesagt hat, Erdogan versucht, das Land auf sich auszurichten und versucht, die Presse mundtot zu machen. "Cumhuriyet" ist die wichtigste Tageszeitung hier, die kritische Tageszeitung in der Türkei, und wenn diese mundtot gemacht wird, dann macht man damit natürlich auch Zivilgesellschaft und die Öffentlichkeit tot.
    Heuer: Herr Lietz, Sie haben jetzt schon gesagt, Sie halten diesen Prozess für einen politischen Prozess. Stehen die Urteile schon fest, glauben Sie das, oder kann es da doch vielleicht noch Überraschungen geben?
    Lietz: In der Türkei gibt es, und das haben die letzten Wochen gezeigt, immer wieder Flip-Flops des Präsidenten beziehungsweise auch vielleicht der Ausrichtung. Wir sprechen ja hier von keinem Rechtsstaat mehr. Wir haben das jetzt erlebt, die Listen der deutschen Wirtschaften wurden jetzt beispielsweise heute auch wieder von der Regierung zurückgezogen. Man versucht hier so ein bisschen unter trial and error Boden gut zu machen, das Land einzuschränken und das Land auf sich auszurichten, und von daher weiß ich nicht … das kann ich nicht beurteilen, ob schon die Urteile feststehen. Fakt ist jedoch, wenn man dem nichts entgegensetzt, dann setzt das System Erdogan hier Schritt für Schritt Fakten, macht Boden gut. Es muss noch mal gesagt werden: Unter den tausenden Inhaftierten, auch in U-Haft Sitzenden, befinden sich ebenfalls viele Richter und auch viele Anwälte.
    Heuer: Berlin hat ja seine Türkeipolitik verschärft beziehungsweise hat letzte Woche angekündigt, das tun zu wollen und hat auch seinen Ton verändert. Hätten wir das früher machen sollen, Herr Lietz?
    Lietz: Man hätte früher Einheit zeigen können, und wir haben insofern versucht, hier noch Brücken zu bauen. Das Parlament ist hier immer einen Schritt weiter gewesen. Wir haben im Parlament ja schon früher immer auch gesagt …
    "Wir haben gefordert, dass wir die Verhandlung der Mitgliedschaft in die EU auf Eis legen"
    Heuer: Sie meinen das Europaparlament damit.
    Lietz: Das Europaparlament, genau. Wir haben gefordert, dass wir die Verhandlung der Mitgliedschaft in die EU auf Eis legen, bis sich erst einmal wieder ein Grundzustand der Rechtsstaatlichkeit einrichtet. Diesen Wunsch und diese Forderung, die im Parlament abgestimmt wurde, haben die Mitgliedsstaaten noch nicht angenommen, und insofern appelliere ich an die Mitgliedsstaaten, das zu tun. Darüber hinaus ist aber sehr wichtig …
    Heuer: Auch an Deutschland? Herr Lietz, Entschuldigung, auch an Deutschland? Appellieren Sie auch an Deutschland, das jetzt formell zu tun und zu sagen, wir wollen, dass die Beitrittsverhandlungen abgebrochen werden?
    Lietz: Auf Eis gelegt werden, nicht abgebrochen werden. Da ist ein großer Unterschied. Ja, das fordere ich, und dafür habe ich auch im Europaparlament gestimmt. Darüber hinaus hat Gabriel aber wichtigere weitere Punkte aufgemacht, und das ist die Wirtschaft. Hier sieht man nicht nur im Zurückziehen der Liste heute der deutschen Unternehmen von der türkischen Regierung, sondern auch in seiner Ankündigung, dass Rechtsstaatlichkeit gegenüber der Wirtschaft von Erdogan persönlich garantiert wird, wie brenzlig die Situation auch für Erdogan ist, und Europa ist … Sozusagen zwei Drittel der in- und ausländischen Investitionen der Türkei finden durch Europa in der Türkei statt. Wir sind der wichtigste Handelspartner, und von daher ist das Ausrufen allein der Gefahr der Rechtssicherheit für die Unternehmen ein Riesenhemmnis für weitere Investitionen, auch Bestand sozusagen der Unternehmen in der Türkei, und hier merkt man, dass Erdogan darauf sofort reagiert. Man könnte sagen: Let’s talk business. Hier muss man den Hebel ansetzen, auf Menschenrechte und auf EU-Mitgliedschaft setzt Erdogan schon lange nicht mehr.
    Heuer: Angekündigt hat Sigmar Gabriel, Ihr Parteifreund Sigmar Gabriel sage ich an dieser Stelle noch mal ganz deutlich, dies alles in der vergangenen Woche. Herr Lietz, trotzdem die Frage: Aus allem, was Sie erzählen, höre ich raus, es dürfte nach Ihrer Sicht ruhig noch ein bisschen weiter gehen, also fordern Sie die Bundesregierung auf, noch ein bisschen entschiedener zu agieren?
    Lietz: Allein eine entschiedene Abstimmung unter den Mitgliedsstaaten, die jetzt ja jetzt sozusagen gefragt sind, das wäre schon ein großer wichtiger Schritt, und es geht hier beispielsweise eben auch um Wirtschafts- und Handelspräferenzen, die ja eigentlich mit der Türkei neu verhandelt werden sollten. Das liegt auf dem Tisch, und hier erwarte ich, und da appelliere ich auch an die Mitgliedsstaaten, auch an die deutsche Regierung, hier eindeutige Zeichen zu setzen. [Unverständliches Wort; Anmerkung der Online-Redaktion] hat das mit dem Katalog, den er auch gemacht hat, bereits in Aussicht gestellt. Österreich ist ebenfalls sehr kritisch.
    "Das Europäische Parlament ist immer so ein bisschen Stimmungsbild der auswärtigen Politik"
    Heuer: Das war es dann aber auch. Mehr haben sie da gar nicht an Ihrer Seite, Herr Lietz.
    Lietz: Das glaube ich nicht. Das Europäische Parlament ist immer so ein bisschen Stimmungsbild der auswärtigen Politik, auch der anderen Mitgliedsstaaten, und das sind die Länder, die vorangehen, und ich bin mir sehr sicher, weil auch wir ein besonderes Land zur Türkei sind. Auch da hat Gabriel mit seinem Brief eine gute Tat vollbracht, dass wir hier gemeinsam jetzt den Schritt auch gehen werden, kritischer gemeinsam gegenüber der Türkei aufzutreten.
    Heuer: Arne Lietz, SPD-Abgeordneter im Europaparlament, zurzeit in Istanbul. Er beobachtet dort den "Cumhuriyet"-Prozess. Herr Lietz, haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit und für die Schilderung Ihrer Eindrücke heute Mittag!
    Lietz: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.