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Prozess gegen KZ-Wachmann
"Ihm waren sämtliche Tötungsmethoden bekannt“

In Detmold hat der Prozess gegen einen früheren Wachmann des Vernichtungslagers Auschwitz begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 94-Jährigen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen vor. Äußern will er sich zunächst nicht.

11.02.2016
    Der früheren Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning kommt in den Verhandlungssaal.
    Der früheren Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning im Verhandlungssaal. (Bernd Thissen/dpa)
    Der 94-jährigen Angeklagte aus dem lippischen Lage kam laut Anklage 1942 als Wachmann nach Auschwitz. Er stieg schnell auf und war später SS-Unterscharführer. "Dem Angeklagten waren sämtliche Tötungsmethoden bekannt", sagte Oberstaatanwalt Andreas Brendel bei Verlesung der Anklage. Dieser habe die Morde durch seinen Dienst "gefördert oder zumindest erleichtert".
    Die Anklageschrift beschreibt das Vernichtungslager als Ort des systematischen Mordens: Getötet wurde in Gaskammern, fast jedes Wochenende gab es Massenerschießungen. Wer zu krank oder zu schwach zum Arbeiten war, wurde vergast. Dass in Auschwitz auch die Lebensbedingungen an sich töten sollten, gehörte zum mörderischen Plan der Nazis. Chronische Unterernährung ließ Tausende verhungern. Dem Angeklagten soll all das bekannt gewesen sein. Mehr noch: Er müsse gewusst haben, dass das System nur funktioniere, weil es durch Gehilfen wie ihn bewacht wurde, begründete die Staatsanwaltschaft den Beihilfevorwurf.
    "Ich will, dass er endlich die Wahrheit sagt"
    Der Verhandlungstag begann mit der Zeugenaussage des Auschwitz-Überlebenden Leon Schwarzbaum. Der 94-jährige berichtete vor dem Landgericht Detmold von dem Grauen, das er erleben musste. "Die SS war grausam und sadistisch", so Schwarzbaum. Eindringlich forderte er von dem Angeklagten über das zu sprechen, was er getan hat: "Ich will, dass er endlich die Wahrheit sagt."
    Der Verteidiger des 94-Jährigen machte hingegen deutlich, dass sich der Angeklagte zumindest derzeit nicht zur Sache äußern wird. Er sei gesundheitlich angeschlagen, verhandlungsfähig für zwei Stunden am Tag. "Wir hatten Angst, dass er den ersten Verhandlungstag nicht überstehen wird, körperlich und auch psychisch", so der Anwalt.
    In einem ersten Verhör mit der Polizei 2013 hatte der Angeklagte noch bestritten selbst getötet und Bescheid gewusst zu haben. Wie verwertbar diese Aussage vor Gericht sein wird, zog die Verteidigung am Donnerstag allerdings in Zweifel: Der Mann sei damals überrumpelt worden.
    Anklageschrift unterscheidet sich von anderen
    In Deutschland laufen dieses Jahr noch mindestens zwei weitere Verfahren gegen mutmaßliche Auschwitz-Mitarbeiter an. Vor rund einem halben Jahr hatte das Lüneburger Landgericht den SS-Buchhalter Oskar Gröning für seine Tätigkeit in dem Lager wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt. Hintergrund ist eine veränderte Rechtsauslegung durch Gerichte, welche die Chancen auf Verurteilung erhöht. Von den rund 6.500 in Auschwitz eingesetzten SS-Mitgliedern wurden in der Bundesrepublik Juristen zufolge bislang etwa 50 rechtskräftig verurteilt.
    Nebenkläger-Anwalt Cornelius Nestler hält diesen Fall aber für besonders. Indem sie so umfassend auf die verschiedenen Arten des Tötens eingehe, unterscheide sich die Anklageschrift von allen bisherigen und noch laufenden Verfahren. "Hier wird der organisierte Massenmord in Auschwitz erstmals in seinem gesamten Umfang angeklagt", betonte Nestler. Insofern verspreche diese Hauptverhandlung Gerechtigkeit für die Überlebenden und ihre Nachfahren, "wenn auch viel zu spät". Der Anwalt vertritt einige der 40 Nebenkläger unter anderem aus Israel, Kanada, Ungarn und den USA.
    (mik/jasi)