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Prozess um manipulierte Abrechnungen
Bestens verdient am Betrugsgeschäft Pflege

Im Düsseldorfer Prozess um Abrechnungsbetrug bei ambulanten Pflegediensten in NRW und Berlin wird in der kommenden Woche ein Urteil gefällt. Angeklagt sind neun Beschäftigte aus der Pflegebranche. Einer der Beschuldigten war verdeckten Ermittlern auf den Leim gegangen. Seine Mutter meint, er sei als Berufsanfänger von den anderen gelinkt worden.

Von Katrin Sanders | 01.02.2018
    Eine Mitarbeiterin eines Pflegedienstes misst einer Patienten den Blutzuckerwert. Mit lilafarbenen Gummihandschuhen tupft sie einen Bluttropfen v on der Hand der Patientin ab.
    Eine Mitarbeiterin eines Pflegedienstes misst einer Patienten den Blutzuckerwert: Die Angeklagten sollen solche Leistungen vielfach nur abgerechnet statt tatsächlich erbracht haben (dpa/ epd)
    Abrechnungsbetrug in der Pflege fällt nicht so schnell auf - solange alle an einem Strang ziehen. Eine der Hauptbeschuldigten vor dem Düsseldorfer Landgericht aber ist früh ausgeschert. Ludmila K. brachte mit ihrem Geständnis Licht in die Zusammenhänge des organisierten Betrugs. Staatsanwältin Petra Szczeponik:
    "Da haben wir ja nur eine Angeklagte, die im Vorfeld unsere Ermittlungserkenntnisse im vollen Umfang bestätigt hat. Die sagt einfach: Das ist so üblich und die Patienten hätten das halt so gewünscht. Da die häufig Geldprobleme haben. Viele der älteren Patienten leben halt von Grundsicherung. Und dann wurde das halt so gehandhabt."
    Geld statt Pflege
    Ärzte sorgten für lukrative Verschreibungen. Patientendaten und Sozialversicherungsnummern von gesunden alten Menschen wurden untereinander verschoben. Und Patienten bot man Geld statt Pflege an.
    "Den älteren Patienten kam es häufig auf Hilfe im Haushalt an. Wer putzt meine Wohnung. Das schaffe ich nicht mehr so gut. Sie sprechen in vielen Fällen nicht so gut Deutsch, legten sehr viel Wert auf Dolmetscherdienste, Fahrten zu Ärzten, aber auch Maniküre, Pediküre, solche Dienste wurde ihnen dann statt der Pflegeleistung angeboten."
    Einiges davon wurde vor Gericht eingestanden. Doch als zentrale Figur im Geschehen sieht die Mutter des Beschuldigten B. - anders als die Staatsanwältin - ihren Sohn nicht, sondern als Berufsanfänger, der von den anderen im Saal gelinkt worden sei:
    "Ja, ich bin Mutter. Aber wenn mein Kind wirklich ein schweres Vergehen begangen hätte und wirklich schuldig wäre, dann würde ich ihm sagen: Du sollst dafür verantwortlich sein, was du gemacht hast. Aber er hatte gar keine Erfahrung. Wir kommen aus einem Land, in dem es überhaupt diese soziale Pflege und die Einrichtungen, die gibt es dort gar nicht. Deswegen also diese Welt war ihm ganz fremd."
    Bei Routinekontrollen fällt vieles nicht auf
    Wie die anderen Angeklagten seien sie mit der Familie in den 90er-Jahren als Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland eingereist. Man lernte sich in der russischsprachigen Community kennen, hielt Kontakt im jüdischen Gemeindezentrum. Von einem "erweiterten Freundeskreis" spricht einer der 15 Anwälte im Saal. In diesen vertrauten Zusammenhängen bekamen B. so wie auch Elena M. ihre ersten Jobchancen.
    Nach und nach wurden sie eingearbeitet, lernten, fachfremdes Personal einzusetzen, nicht erbrachte Leistungen abzuzeichnen und Luftrezepte abzurechnen. Bei Routinekontrollen kann das kaum auffallen, sagt Dina Michels. Die Chefermittlerin bei der Kaufmännischen Krankenkasse Hannover ist auf Hinweisgeber angewiesen:
    "Wir bekommen sehr viele Hinweise aus allen Bereichen. Und es ist oft so, dass von solchen Vorgängen zumindest im engeren Bekanntenkreis der Täter irgendetwas durchsickert und manchem schmeckt das dann nicht. Es können aber auch reine Zufallsfunde sein. Eine Zuzahlung wird zum Beispiel von der KKH angefordert beim Versicherten und dann sagt der, Moment mal, ich habe diese Leistung, dieses Hilfsmittel oder auch dieses Medikament gar nicht erhalten."
    "Wir haben ja gar keinen Abgleich von Informationen", sagt Christoph Jaschke. Der Intensivpfleger betreibt in Kerpen eine Pflege-Wohngemeinschaft und ist bei Transparency International gegen Betrug in der Pflege aktiv. Kontrollen des Medizinischen Dienstes, sagt er, haben keinen Effekt, wenn sie angekündigt werden und nur bei Verdacht erfolgen dürfen.
    "Wenn Sie sicher sein wollen, dass Sie nicht übers Ohr gehauen werden, dann müssen Sie ohne Voranmeldung prüfen. Dann kriegen Sie den Live-Ausschnitt aus einem Betrieb: Wollen wir mal gucken, wie viele sind gerade hier im Dienst? Wie viele Bewohner haben Sie? Erklären Sie mir mal den Dienstplan und die Personalquote."
    "Aufstiegsschmeichelei" üblich im korrupten Milieu
    Die Hauptbeschuldigten, die sich jetzt in Düsseldorf verantworten müssen, kannten sich mit den hier möglichen Manipulationen aus. Über Jahre verdienten sie bestens am Betrugsgeschäft Pflege. Bei anderen aber ergeben sich aus den Plädoyers der Rechtsanwälte auch viele offene Fragen. Vertraute Kreise, dieselbe Muttersprache und das Angebot aufsteigen zu können, wurden zum Beispiel dem Altenpfleger B. zum Verhängnis, der - ohne jegliche Vorbildung - mit der Geschäftsführungsaufgaben betraut wurde. Als "Aufstiegsschmeichelei" bezeichnet das sein Anwalt vor Gericht. Nicht ungewöhnlich für ein korruptes Milieu, sagt der Strafrechtler Bernd-Rüdeger Sonnen von Transparency International:
    "Es gibt ja auch sowas wie Anfüttern, so nennt man das. Also dass man Leute erstmal hinein holt in das System mit kleineren Summen. Aber in dem Moment ist man Teil eines Betrugssystems geworden. Heißt: Wenn man da aussteigen möchte, ist das kaum noch möglich."
    Die Mutter von Yevgeny B. gibt an: "Da wurden junge Menschen ausgenutzt, wie so ein Kartenspiel. Und wer gesagt hat: Ich bin nicht einverstanden, der wurde rausgeschmissen. Und dann wurde wieder ein Unerfahrener, der nichts gefragt hat und froh war, da zu sein, eingestellt."
    Mit Verdienstmöglichkeiten in der Pflege geprahlt
    Vier Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft für seinen Tatanteil. B. ist den verdeckten Ermittlern des Landeskriminalamtes auf den Leim gegangen, hatte vor ihnen mit den Verdienstmöglichkeiten in der Pflege geprahlt. Großsprecherei, sagt sein Anwalt, könne man ihm vorhalten - aber ein Strafmaß fordern, das über dem der Hauptangeklagten Ludmila K. liege? Selbst in der Gruppe habe er als kleines Licht gegolten, wie Telefonüberwachungen belegen würden.
    "Und es fehlen hier auch viele Menschen, die auch gearbeitet haben und Verantwortung getragen haben, und zwar über Jahre, über viele Jahre. Und diese Menschen sitzen hier gar nicht? Sind gar nicht Beschuldigte? Also gibt es einen Mechanismus, wie man auch keine Verantwortung tragen kann? Obwohl man über sehr viele Jahre Geschäftsführer war?"
    Gegen rund 300 weitere Personen, Patienten, die Geld statt Pflege nahmen, oder korrupte Ärzte wird derzeit noch ermittelt. Viele trugen dazu bei, dass durch betrügerische Abrechnungen die Sozialkassen über Jahre hinweg systematisch und in Millionenhöhe betrogen wurden.