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Psychedelischer Kapitalismus

Die Nerven von uns Kristallpalastbewohnern sind leicht zu okkupieren: Langeweile macht empfänglich und bedingt nicht nur Konsum- sondern auch Informationsabhängigkeit - eine mediale Schwäche, die sich heutzutage der Terrorismus zunutze macht. Im globalen Treibhaus ist die Geschichte bereits zu Ende gegangen. Literarisch philosophierend skizziert Peter Sloterdijk seine Theorie der Gegenwart.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 16.05.2005
    Der Weltinnenraum des Kapitals findet eine frühe anschauliche Form im Innenraum eines Kristallpalasts - dies zumindest legt die auf dem Umschlag von Peter Sloterdijks neuem Buch abgebildete Teilansicht eines prächtigen Gebäudes nahe. Und in der Tat führt uns der in Karlsruhe und Wien lehrende Philosoph wieder, wie auch schon in seiner dreibändigen Sphärologie, in Innenräume, um die so genannte äußere Wirklichkeit zu deuten.

    So ist denn auch die im Untertitel versprochene "philosophische Theorie der Globalisierung" kein Neuaufguss einer bereits von Klischees restlos zermalmten, am Außen orientierten Argumentation für oder gegen die Globalisierung, sondern der Versuch, einzutauchen in die inneren Bewegungen, die Beschleunigungen und vor allem auch die Verlangsamungen, die diesem Prozess eigen sind. Globalisierung soll ebenso als "Stau" und "Stillstand" gedacht werden, also als ein Vorgang, bei dem sich alle Zeitgenossen einen Tick schneller bewegen als zuvor, sich dabei mehr unter Druck setzen und sich gleichsam gegenseitig ausbremsen.

    "Die illusionäre Botschaft lautet: Gemeinsam sind wir schneller. Die wahre Nachricht hieße: Gemeinsam verwalten wir den Stillstand besser... Es kann nur noch eine simulatorische Politik geben, das heißt: die Politiker halten die Phantasie am Leben, dass unter ihren Händen die Dinge im Land souverän vorangetrieben werden."

    Das, was als Geschichte und Geschichtlichkeit erscheint, ist für Sloterdijk nur noch der Nachklang einer ehemals großen Aufbruchsbewegung und Weltnahme. Aber das Zeitalter der Entdeckungen und Eroberungen - des heldischen Gestus, der sich noch einmal in der Weltraumforschung zu manifestieren versucht - ist längst vorbei und hat sich in neue Innenräume verlagert.

    Die seit Ende des 15. Jahrhunderts von den großen Entdeckern vollzogene "terrestrische Globalisierung" hat die äußeren Räume erschlossen und die weißen Flecken der Landkarten eingeschwärzt. So gesehen ist die Globalisierung (außer in der Form der teletechnologischen und elektronischen Prozesse) eher ein alter Hut, relevant aber ist das Phänomen der Globalität.

    Die globale Welt hat sich mehr und mehr die zu ihr passenden Weltinnenräume geschaffen. So schließt sich der Kreis: von der Meditation der kosmischen Kugel in den antiken Kosmologien bis zur Innenausstattung der Erdkugel, nachdem man die Meere befahren, die Welt erobert und das Fremde zum Eigenen gemacht hat. Zurückgekehrt mit Geld und Machtzuwachs läuten die frühen Entdecker und dann deren Nachfahren, die Kolonisatoren, die Zeit der Posthistoire ein - denn in der Kolonisation ist natürlich schon die Befreiung von den Besatzern und die Emanzipation vorgezeichnet.

    Reale Geschichte hat es mit Aufbrüchen und Unternehmen im Freien zu tun. Dafür stehen exemplarisch die Seefahrt und die Expansionskriege. In dem Augenblick, in dem sich die Menschen in ihrer Welt wie in einem großen Freizeitpark einzurichten versuchen und alles dem Konsumismus unterwerfen, nehmen sie die konflikthaften, kämpferischen Unternehmungen im Außen nach innen und schaffen sich dafür entsprechende Gehäuse. Die westliche Welt, beispielhaft die Europäische Union, verkörpert ein solches großes Interieur.

    "Nach der 'Geschichte' wird 'Geschichte' nur noch von denen zu machen versucht, die nicht einsehen können und wollen, dass sie vorüber ist... Der 11. September ist das bisher deutlichste Indiz vollendeter Nachgeschichtlichkeit, obschon viele ihn ... sogar für das Startsignal zum 'Wiederbeginn der Geschichte' halten wollen."

    Die weiten geschichtlich-nachgeschichtlichen Räume durchschreitet Sloterdijk mit Siebenmeilenstiefeln und in gewohnter Souveränität des Jonglierens mit philosophischen, politischen und literarischen Konzeptionen. Dabei durchziehen vor allem zwei Begriffe leitmotivisch seine Überlegungen zum kapitalistischen Weltzustand: der auf Dostojewski zurückgehende Begriff des Kristallpalasts und Rilkes Metapher vom Weltinnenraum.

    Die Welt im Global Age kann als geschichtlich nur noch aufgefasst werden, sofern man alle beliebigen Sequenzen von Ereignissen schon als historisch ausgibt und Geschichte in Form von Partial-Geschichten zu jedem x-beliebigen Gegenstand und jedem Ereignis schreibt. Eine solche history of everything legt einen Grauschleier über die nachgeschichtliche Modalität heutiger Ereignisströme. Das Motiv vom Ende der Geschichte findet für Sloterdijk seinen ersten signifikanten Ausdruck in dem architektonischen Entwurf des Kristallpalasts, auf der Weltausstellung von 1862. Dostojewski konnte schon damals die westliche Zivilisation als Kristallpalast denken: Das soziale Leben, vormals im Außen als Konflikt angesiedelt, schafft sich nun Orte, an denen das geschichtlich Errungene weltbeglückend und entspannt genossen werden soll. Das kristallpalastartige Interieur stellt einen symbolischen Ort des wohlgeordneten, klimatisierten Binnenraums dar.

    "Das vom Prinzip Interieur und vom Prinzip Immanenz bestimmte Bauwerk deutet bereits auf das hin, was heute psychedelischer Kapitalismus heißt."

    Walter Benjamins architektonisches Modell der Passagen zur Erklärung des kapitalistischen Weltzustands schien über lange Zeit hinweg als eine der brauchbarsten metaphorischen Umschreibungen. Im Vergleich zu Dostojewskis Modell des Kristallpalasts gerate es allerdings, so Sloterdijk, ins Hintertreffen, erweise sich als zu sehr zeitgebunden und müsste heute auf all die zeitgenössischen Spielarten der Nicht-Orte wie Shopping Malls, Messezentren, Sportarenen und Indoors-Erlebnisparks erweitert werden.

    "... auch die Türme von New York stürzten innerhalb des Glaspalasts ein, die Berliner Love-Parades waren Palast-Amüsements in einem weiträumigen Jeu de Paume ..."

    Sloterdijk spricht auch von "Komfort-Installationen" im exklusiven Klub derjenigen, die teilhaben an der so genannten globalisierten Welt. Aus Benjamins "Tempeln des Warenkapitals" sind eher Treibhaus- und Mini-Raumstationen geworden, in denen die Kaufkraftbesitzer eine kosmopolitische Haltung zur Schau stellen.

    "Der Kristallpalast ... deutete schon weit über die Passagenarchitektur hinaus und enthielt den Hinweis auf einen integralen, erlebnisorientierten, populären Kapitalismus. Der Kristallpalast beschwor bereits die Idee eines Gehäuses herauf, das geräumig genug wäre, um es vielleicht nie mehr verlassen zu müssen."

    Ein solches Glücks-End-Zeit-Projekt bündelt in sich die Ströme des Begehrens und Unterwegssein-Wollens, des kapitalistischen und des sozialistischen Wünschens. Das Treibhaus der Entspannung und des Konsumierens verbreitet eine Stimmung der Langeweile und des Überdrusses, die ständig mit der Stimmung des Aufbruchs in eine noch bessere Zukunft aufgemischt werden muss.

    Man fragt sich, wie lange sich die Politiker bei ihrer Beschwörung einer bevorstehenden Wiederbelebung der Wirtschaft noch auf eine Erkennungsmelodie des Konsumismus verlassen können. Wer glaubt denn wirklich, dass der Komfort nie zu fließen und zu wachsen aufhört?

    Furios, wie Sloterdijk in Dostojewski den Diagnostiker der universellen Bequemlichkeit als Freiheit zum Bösen erkennt und wie er Heidegger als ""Punk-Philosoph der zwanziger Jahre" charakterisiert, der die nachgeschichtliche Welt der Langeweile mutwillig redramatisiert habe.

    "Aufgabe der Philosophie wäre es, das Glasdach über dem eigenen Kopf zu sprengen, um den Einzelnen wieder unmittelbar zum Ungeheuren zu machen."

    Auf geradezu perverse Weise überschneiden sich an diesem Punkt der Wunsch des Philosophen, dem Kristallpalast-Bewohner das schützende Dach wegzureißen mit den grausamsten (allerdings von der medialen Gesellschaft hysterisch nachgespielten) Aktionen der Terroristen.

    "Wenn die Terroristen ihre telegenen Explosionen an den geeigneten Stellen platzieren, nutzen sie intuitiv die hyperkommunikative Verfasstheit der westlichen Infosphäre aus... Die einzige Antiterrormaßnahme, die Erfolg garantierte, wäre das lückenlose Schweigen der Medien über neue Anschläge..."

    Es ist die Stärke aller Bücher Sloterdijks, dass sie sich bedingungslos auf ein offenes, nicht restriktives Denken einlassen und nie nur einen Gegenstand auf konventionell wissenschaftliche Art und Weise abhandeln. Diese Bücher sind immer Forschung, Essay und Erzählung zugleich. Zuweilen ist ein einziger gewagter Satz, zum Beispiel zum Thema Terrorismus, reicher an Erkenntnis, als ganze Kongresse zutage fördern, zum Beispiel:

    "Der Terrorismus durchdringt die Gehirne der 'Massen', ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, und sichert sich ein bedeutendes Segment auf dem Weltmarkt der thematischen Erregungen... Der islamistische Fundamentalismus ... ist nur interessant als ein mentales Arrangement."

    Die Nervensysteme der Kristallpalastbewohner seien, so Sloterdijk, sehr leicht okkupierbar, da diese von Langeweile bedrohte Innenwelt immer auf Nachrichten von außen wartet. Der global operierende Terrorismus macht sich die Schwächen unserer medialen und ständig auf Ereigniszufuhr angewiesenen Gesellschaft zunutze.

    Selten hat sich eine philosophische Theorie derart vehement als Erzählung ausgegeben wie Peter Sloterdijks Sphärologie und deren Fortschreibung "Im Weltinnenraum des Kapitals". Die schon längst für tot erklärten Großen Erzählungen, die der jetzt heranwachsenden jungen Generation von Geisteswissenschaftlern bereits antiquarisch vorkommen mögen, werden von Sloterdijk erst einmal scharf kritisiert. Denn:

    "Sie trugen unüberwindlich provinzielle Züge, waren von deterministischen Vorurteilen besessen, haben in den Lauf der Dinge Zielprojektionen von schamloser Linearität eingeschmuggelt."

    Aber deswegen hält sie Sloterdijk noch längst nicht für erledigt. Zu voreilig und überaktiv, zu stark simplifizierend, zu zielorientiert, fortschrittsgläubig und weltgeistmäßig überspannt seien sie gewesen: Das berechtige aber nicht zur resignativen Aufgabe der erzählerischen Einstimmung in die Frage, wer wir sind und was wir zu tun haben.

    Nicht weniger als eine Theorie der Gegenwart will Sloterdijk skizzieren, indem er die Geschichte der Globalisierung zu rekapitulieren versucht. Dies war bereits ein großes Anliegen seiner dreibändigen Sphären, und so besteht denn auch dieser Folgeband zu einem Teil aus der überarbeiteten Fassung des entsprechenden Kapitels "Die letzte Kugel" (in Band II Globen).

    Auf dieser Basis nimmt sich Sloterdijk jetzt noch größere erzählerische Freiheiten. Nur wenn man dies poetologisch und erkenntnistheoretisch zu genießen versteht, erblickt man in seinem neuen Buch keinen Selbstreprint, keine Zweitverwertung des Sphären-Hauptwerks, sondern die Weiterentwicklung eines lustvollen, von Bewegungen und Seitenbeweglichkeiten geprägten zukünftigen, zukunfts-erschließenden Denkens und Schreibens.

    Philosophie und Literatur stehen in einem viel fruchtbareren Verhältnis zueinander, als dies die Dogmatiker glauben. Und es geschieht nicht alle Tage, dass ein Wissenschaftler eine ganze Theorie der Gegenwart an dem von einem Dichter geprägten Wort ausrichtet und dieses auf feinfühlige Weise aus dem seelischen Raum des Welterlebens in den ökonomischen Raum überführt:

    "'Weltinnenraum des Kapitals' wird hier für die interieurschaffende Gewalt der zeitgenössischen Verkehrs- und Kommunikationsmedien eingesetzt: Er umschreibt den Horizont der vom Geld erschlossenen Zugangschancen zu Orten, Personen, Waren und Daten ..."

    Peter Sloterdijk: "Im Weltinnenraum des Kapitals" (Suhrkamp Verlag)