Dienstag, 19. März 2024

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Psychiatrie im Nationalsozialismus

Ein Thema des Jahreskongresses der DGPPN, der deutschen Gesellschaft für Psychiatrie ist die Psychiatrie im Nationalsozialismus. Es ist das erste Mal, in der Geschichte der Fachgesellschaft, dass es dazu eine offizielle Gedenkveranstaltung geben wird.

Von Ursula Storost | 25.11.2010
    Juli 1933. Arthur Gütt, Ministerialrat im Reichsinnenministerium, begründet das neue Gesetz "zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Arthur Gütt:

    "Ferner dürfen wir nicht vergessen, dass Verbrecher und arbeitsscheue asoziale Menschen zum großen Teil, nach Berechnung von einzelnen Autoren sogar zu 30 bis 50 Prozent aus der Zahl der Schwach-sinnigen und geistig Minderwertigen sich rekrutieren."

    Dem Gesetz zur Zwangssterilisierung folgte im September 1939 der Euthanasieerlass. Euthanasie, das griechische Wort für guter Tod. Viele Psychiater in Deutschland griffen die Ideen der Nazis willig, ja mit Begeisterung auf. Zum Beispiel der bis heute hochgeschätzte Professor Hermann Simon. Damals Leiter der psychiatrischen Anstalt in Gütersloh. Er teilte die deutsche Gesellschaft in drei Teile: die besonders Intelligenten und Leistungsfähigen, die wirtschaftlich Neutralen und:

    "Die Asozialen, die Obdachlosen, die Gefängnisinsassen, die psychisch Kranken, die Arbeitsscheuen. Und diese kosten wesentlich mehr als sie der Gesell-schaft erbringen. Sie sind sozusagen das Passivum der Gesellschaft. Seine Worte. Dann endet sein Aufsatz, es muss noch viel gestorben werden."

    Michael von Cranach, Psychiater und ehemalige Direktor des Bezirkskrankenhauses Kauf-beuren, erforscht seit Jahrzehnten die Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus. Vor einigen Jahren tauchten in den Archiven der ehemaligen DDR dreißigtausend Krankenakten von ermordeten Psychiatriepatienten auf. Das gab der Forschung neue Impulse. Denn, sagt Michael von Cranach, jetzt weiß man definitiv, es ging nicht um die Verhinderung von Erbkrankheiten:

    "Diese Untersuchung der Krankengeschichten hat ganz deutlich hervorgebracht, dass das Selektionskriterium, die Auswahl, wer durfte überleben und wer wurde getötet ganz vordergründig von der Arbeitsfähigkeit abhing. Im Grunde genommen lebenswert war, wer arbeitsfähig war. Und lebens-unwert war, wer nicht arbeiten konnte. Das waren also ganz vorder-gründig ökonomische Kriterien."

    In Deutschland wurden bei der sogenannten T-4-Aktion, die von der Berliner Tiergarten-straße 4 ausgeleitet wurde, mindestens siebzigtausend Psychiatrie Patienten mit Transporten in zentrale Tötungsanstalten gebracht und dort vergast. Eingewiesen von ihren Ärzten. Michael von Cranach:

    "Das Eine war sicher auch Karrieredenken. Man wusste, man ge-hörte, wenn man da mitmachte zur Elite der deutschen Psychiatrie. Man wurde hofiert. Man wurde zu Tagungen eingeladen. Die Aktion T4 hatte im Salzburgerischen ein Hotel requiriert und dort wurden Feste, wurden die Direktoren eingeladen mit ihren Gattinnen. Man machte Karriere. Man hatte vielleicht auch nicht den Mut nein zu sagen."

    Aufgrund massiver kirchlicher Proteste, besonders durch den Münsteraner Bischof von Galen, wurde nach 1941 die T4-Aktion abgeschlossen. Aber das Morden ging weiter. Dezentral. Mindestens 200.000 behinderte Menschen wurden entweder direkt in den jeweiligen Psychiatrien er-mordet oder in Tötungsanstalten transportiert. Als lebensunwert. Michael von Cranach:

    "Man kann das in der Krankengeschichte sehr schön sehen, wie so Ende der 30er-Jahre die Einträge überhaupt nicht mehr den Menschen betreffen. Ihn persönlich, seine Individualität. Auch gar keine Be-ziehung mehr erkennen lassen. Sondern er wird nur noch bewertet. Es wird auch gar keine Fachsprache mehr verwendet. Sondern der Mensch wird bewertet. Faul, uneinsichtig, nicht zu bewegen, was zu tun, Menschenhülse."

    Wie konnte es dazu kommen, dass Ärzte ihre Schutzbefohlenen töteten oder in den Tod schickten. Dass sie sie in Hungerhäusern sterben ließen? Michael von Cranach sucht seit Jahren nach einer Antwort:

    "Mein Vorvorgänger in Kaufbeuren hat dem Anstaltspfarrer gesagt, Herr Pfarrer, wenn wir mal vor Gott im letzten Gericht gerufen werden, werden wir unsere Schuld büßen müssen. Er wusste, was er tat. Er selbst hat sich gerechtfertigt, dass er sagte, das war ein Erlass und wir mussten gehorchen. Also man hat das Gefühl, er hat auch sein Ge-wissen aufgegeben."

    Szenenwechsel: die evangelische Stiftung Hamburg Alsterdorf. Eine im 19. Jahrhundert gegründeten Einrichtung für Behinderte:

    "Wir stehen jetzt an einer Straße zwischen zwei weit auseinanderliegenden alten Gebäuden."

    Michael Wunder ist Doktor der Psychologie. Und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Seit über 30 Jahren leitet er in Alsterdorf die Beratungsstelle für behinderte Menschen und deren Angehörige:

    "Wir stehen an der Stelle der ehemaligen Anstaltspforte. Die war immer zu. Die Anstalt war ja von einer Mauer umgeben. Übrigens auch noch durch eine Mauer innen getrennt. Nämlich Männer und Frauen-seite."

    Die Gebäude stehen noch. Aber es gibt keine Mauer mehr, keine Schranke, kein Tor.

    "Und an diesem Tor, was genau hier an dieser Straße war, trennte sich zwei Welten. Draußen und drinnen. Und die grauen Busse fuhren 1941 aber eben auch 1943 diese kleine Straße hier etwas bergan und hielten hier vor dem Anstaltstor."

    Michael Wunder hat die Geschichte der evangelischen Stiftung Alsterdorf zwischen 1933 und 1945 erforscht.

    "Und das Personal dieser Busse ist dann eben in die Anstalt hinein-gegangen und hat zwangsweise, wie Augenzeugenberichte, belegen, die Anstaltsinsassen, die geschrien haben, sich gewehrt haben in diese Busse gepfercht."

    An der Stelle, wo die Menschen in die grauen Busse gepfercht wurden, hat der Kölner Künstler Günther Demnig eine glänzende Messingschwelle verlegt. Zwei Meter lang. Beschriftet.

    "Wir können nicht schreiben, hier wohnten die Personen. Die wohnten ja nicht, die waren hier kaserniert, die waren hier unter-gebracht und wie in einer Falle wurden sie eben auch rausgefischt in die Tötungsanstalten. Deshalb haben wir auf diese Schwelle ge-schrieben: Von hier, nämlich von diesem authentischen Ort aus, fuhren 1941 und 1943 die Busse der Euthanasietransporte ab. 539 Be-wohner und Bewohnerinnen der damaligen Alsterdorfer Anstalten wurden von hier deportiert. Fast alle in den Tod."

    Heute ist Alsterdorf ein diakonisches Dienstleistungsunternehmen mit zahlreichen An-geboten für Behinderte und nicht Behinderte. Autos fahren ein und aus, Fahrräder queren. Es gibt Supermärkte, Restaurants und Kaffees, Tagungsräume und Wohnungen für Behinderte.

    Frank Schneider ist Präsident der DGPPN, der deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde.

    "Die DGPPN ist sich ihrer besonderen Verantwortung um die Würde und Rechte der psychisch Kranken bewusst, die aus der Beteiligung ih-rer Vorläuferorganisationen an den Verbrechen des Nationalsozialis-mus, an massenhaften Krankenmorden und Zwangssterilisationen er-wachsen. Soweit das Zitat."

    Dieser Artikel wurde im letzten Jahr in die Satzung der DGPPN, aufgenommen. Bei der diesjährigen Jahrestagung wird sich die medizinische Fachgesellschaft zum ersten Mal in einer offiziellen Veranstaltung zu ihrer Ver-antwortung für Euthanasie und Zwangssterilisationen bekennen. Warum das erst nach über 70 Jahren geschieht? Frank Schneider zuckt mit den Achseln. Frank Schneider:

    "Das ist ne gute Frage, die wir eigentlich nur mit Scham nicht be-antworten können. Wir stehen eigentlich eher fassungslos davor, dass wir das jetzt erst aufgreifen können. Es gab einige zaghafte Versuche die Aufarbeitung zu beginnen. Das fing eigentlich schon 1945 an, dass ein Direktor, damals der Lübecker Nervenklinik, Professor Schmidt versucht hat ein Büchlein, das er geschrieben hat, über die Zustände zu veröffentlichen. Er hat viele, viele Jahre keinen Verleger ge-funden."

    Professor Frank Schneider ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Aachen. Er ist nicht nur Arzt, sondern auch Sozialwissenschaftler. Und ein Menschenfreund.:

    "Ich wollte gerne Menschen helfen, die durcheinander sind, die traurig sind. Das weiß ich seit meiner Jugendzeit. Und das sogenannte Dritte Reich hat mich immer beschäftigt und steh eigentlich immer noch fassungslos davor, wie das alles passieren konnte. Das ist ja noch gar nicht lange her. Und hab auch eine unheimliche Angst, dass das wieder kommen kann. Unter welchen Umständen auch immer. In welcher Ausgestaltung auch immer."

    Nicht einmal nach 1945 haben wir Psychiater an der Seite der Opfer gestanden, sagt Frank Schneider. Er sucht nach Erklärungen:

    "Es war so, dass z.B. der psychiatrische Verband auch von Präsi-denten geleitet worden ist, die aktiv an Tötungen, an Zwangs-sterilisationen und an der forcierten Zwangsemigration beteiligt waren. Das waren dann Präsidenten, die z.T. auch hinterher noch Präsident waren, nach 45. Und es waren auch drei davon, die eine Ehren-mitgliedschaft dieser Gesellschaft bekommen haben."

    Und auch die Politik hat sich der Leiden der Psychiatrie Patienten nicht wirklich an-genommen. Und tut es bis heute nicht, beklagt Frank Schneider:

    "Wenn Sie sich überlegen, das Gesetz zur Verhütung erb-kranken Nachwuchses, wann wurde das vom Bundestag ge-ächtet? Das war 2007. Es gab vorher viele Initiativen, dass Zwangssterilisierte entschädigt werden. Anerkannt werden als Opfer. Aber das Bundesentschädigungsgesetz von 65, das gibt es weiterhin. Und darin steht, dass psychisch Kranke, Sterilisierte wie Ermordete nicht explizit Opfer des NS Regimes sind."

    Das seien Signale, die einem zu denken geben müssten, resümiert der Psychiater:

    "Ich glaub nicht, dass der Mensch so gut ist und so gefeit ist und dass unser System so toll ist, dass wir verhindern können, dass so was noch mal passiert."

    In der Hamburger Stiftung Alsterdorf hat der Psychologe Michael Wunder vor einigen Jahren eine Angehörigengruppe ins Leben gerufen. Ein Kreis von 15 Familien, die sich über ihre Verwandten austauschen, die als Patienten in den Tod geschickt wurden. Ohne äußeren Zwang durch die NSDAP, völlig freiwillig. Michael Wunder:

    "In der zweiten Phase der Euthanasie, in der es keine direkte zentrale Anleitung mehr gab, sondern der Apparat von sich aus funktionierte, in dieser Phase ist Alsterdorf – und das als kirchliche Einrichtung – von sich aus selektiv tätig geworden und hat 1943 nach der Bombardierung Hamburgs, mit dem Argument, Wohnraum für Ausgebombte schaffen zu müssen, eine große Anzahl, fast 500 Anstaltspatienten selektiert. Die Schwächsten der Schwachen, wie es damals hieß."

    Ohne äußere Zwänge seien die meisten Morde geschehen. Das bestätigt auch Volker Roelcke. Der Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Gießen geht sogar noch einen Schritt weiter:

    "Die historische Forschung zeigt sehr eindeutig, dass die Initiative zu praktisch allen verbrecherischen Taten, unethischem Handeln in der Medizin zwischen 1933 und 1945 von den Ärzten ausgegangen ist. Nicht von politischer Seite. Und auch praktisch nie ein Druck vorlag und ein Zwang, dem man auf keinen Fall entkommen konnte. Die Forschung zeigt auch, dass die beteiligten Ärzte nicht isolierte, perverse Außenseiter waren, sondern dass die fast immer eingebettet waren in einen breiten Arbeitskontext, auf hoch-innovative Forschung auch internationale Resonanz hatten."

    Ganze Abteilungen an Universitäten haben gewusst, was geschah. Sie arbeiteten den mörderischen Seelenärzten zu, sagt Volker Roelcke. Er leitet die gerade eingesetzte Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der DGPPN. Forderungen nach Zwangssterilisation und Euthanasie gab es nicht erst ab 1933. Volker Roelcke:

    "Die Zwangssterilisationen wurden propagiert von dem führenden deutschen Psychiater eigentlich, der auch Direktor eines Kaiser-Wilhelm Institutes war, nämlich Ernst Rüdin. Ein international hoch-renommierter Forscher im Bereich der psychiatrischen Genetik. Dessen Intention war es, diejenigen, die schlechte Erbanlagen tragen zu identifizieren in der Bevölkerung und dann von der Fortpflanzung auszuschalten."

    Viele damalige Psychiater dachten so. Sie wollten die "Ballastexistenzen" – ein Begriff der bereits in den 1920er-Jahren geprägt wurde – ausschalten. Andere, die jetzt mit Todesspritzen durch die Kliniken zogen, hatten sich Jahre vor-her mit modernen Ideen um die Gesundung psychisch Kranker einen Namen gemacht.""

    "Das ist der beunruhigende Aspekt dieser Geschichte. Ne ganze Reihe von denen, die in der Euthanasie involviert waren, galten in den 1920er Jahren als so-genannte Reformpsychiater, weil sie interessante Reformprojekte an-gestoßen und auch durchgeführt haben. So wie Faltlhauser eben in Bayern oder auch der zeitweilige Leiter der zentralen Euthanasiedienst-stelle in der Tiergartenstraße 4, Paul Nitsche war in den 1920er Jahren ein bekannter Reformpsychiater. Anstaltsdirektor in Sachsen. Und sie wollten was Gutes tun für ihre Patienten."

    Auf dem Gelände der evangelischen Stiftung Alsterdorf steht eine rote Backsteinkirche. Hinter dem Altar hängt ein weißer Vorhang. Der Psychologe Michael Wunder zieht den Stoff zur Seite. Und enthüllt ein vielleicht vier mal sechs Meter großes Wandbild. Michael Wunder

    "1938 von dem damaligen Anstaltsleiter Friederich Lensch selber hergestellt, bemalt und konzeptioniert."

    Ein Schlüssel zur Aufarbeitung unserer Geschichte, sagt Michael Wunder.

    "Das Bild zeigt in der Mitte Christus, fast athletisch, als ob er aus der Olympiade von 36 kommt. Kein Schmerzensmann, sondern eher ein Muskelmann."

    Man sieht Christus am Kreuz. Umgeben von zwölf weißgewandeten Gemeindemitgliedern – wie von seinen Jüngern. Michael Wunder:

    "Die haben alle einen Heiligenschein die 12. Und wo Pastor Lensch auch gesagt hat, die empfangen die Liebe des Herrn. Der Herr hat auch einen Heiligen-schein, ist klar. Aber wenn man genau hinschaut. Gibt es ein paar Menschen, insgesamt drei aus diesem Bild, die haben keinen Heiligen-schein. Diesen erwachsenen behinderten Mann hier unten. Oben ein behindertes Baby. Daneben noch Pastor Sengelmann, der einen Jugendlichen hält. Diese drei Menschen sind deutlich die Behinderten auf dem Bild. Die haben keinen Heiligenschein. Es gibt also innerhalb dieser Gemeinde zwei Arten von Menschen."

    Unwillkürlich schaudert man, wenn man sich vorstellt, wie dieses Bild anlässlich der 75Jahrfeier der Alsterdorfer Anstalten vor der versammelten NSDAP-Gauleitung enthüllt wurde. Und wie die Reden dazu klangen. Pastor Sengelmann:

    "" Zum Beispiel, warum müssen wir überhaupt noch eine Anstalt machen vorüber-gehend, solange die Erbgesundheitsgesetze nicht greifen, wird es solche Anstalten geben. Langfristig ist das aber nicht mehr nötig im Deutschen Reich. Auch eine solche Rede wurde von dem damaligen Geschäftsführer in diesem Gottesdienst gehalten.