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"Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimen"

Die Psychoanalyse konzentriert sich auf das Individuum im Gegensatz zur Diktatur. Trotzdem hat sie sich auch in verschiedenen Regimen erhalten. Wie die Bedingungen in diesen Systemen aussahen, zeigt der Sammelband an Beisipielen unter anderem aus Deutschland und Österreich nach der Machtübernahme der Nazis.

Von Thomas Kleinspehn | 21.10.2010
    Man könnte es als Ironie der Geschichte ansehen: Aber totalitäre und faschistische Regime haben durchaus als Katalysatoren für die psychoanalytische Theorie und Praxis gewirkt. So hat beispielsweise das Dritte Reich Widersprüche und Ambivalenzen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung aufgedeckt, die anders vielleicht nur sehr viel mühsamer zu Tage getreten wären. Es ist eine Mähr, die Psychoanalytiker bis hin zu Alexander Mitscherlich schon unmittelbar nach dem Krieg verbreitete haben, dass Psychoanalyse und totalitäre Regime unvereinbar seien. Selbst zwischen 1933 und 1945 hat es in Deutschland Formen und Abarten der Psychoanalyse gegeben. Sie wurde nicht gänzlich abgeschafft, auch wenn manche das gerne behauptet haben. Es waren allerdings nur bestimmte konservative Richtungen, die überlebt haben. Wie einzelne Psychoanalytiker in ganz verschiedenen Ländern auf totalitäre und autoritäre Systeme reagiert haben, das untersucht jetzt ein Sammelband, den der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Mitchell G. Ash herausgegeben hat:

    "Erinnern wir uns daran, dass Wissenschaft spätestens seit dem 20. Jahrhundert ohne Institutionen und die in ihnen gelagerten Apparate schlicht undenkbar ist, und dass wissenschaftliche Forschungs- und Ausbildungsinstitutionen wie Universitäten – aber wohl auch nichtstaatliche Einrichtungen wie psychoanalytische Vereinigungen und ihre Ausbildungsorgane – selbst als Mikrostrukturen der Machtausübung bzw. der Reproduktion sozialer Hierarchien durchaus begreifbar sind. Dann wird es schlagartig klar, dass und wieso "Wissenschaft" und "Politik" in unserer Zeit kaum voneinander getrennt werden können"

    sagt Ash in seinem sehr formal-strengen einleitenden Aufsatz. Und in der Tat zeigte sich der Konflikt zwischen Psychoanalyse und Politik immer zuerst in den Institutionen. Entscheidend war aber vor allem, wie die einzelnen Mitglieder ihre eigene Rolle verstanden – politisch oder nicht. In Deutschland und Österreich etwa hatte es schon lange vor 1933 eine teilweise heftig geführte Debatte um die politische und gesellschaftliche Ausrichtung der Psychoanalyse gegeben. Psychoanalytiker wie Otto Fenichel, Wilhelm Reich oder Edith Jacobson haben hier darauf beharrt, dass die Psychoanalyse bei allen individuellen Leiden immer auch eine kulturkritische – und damit politische – Dimension haben müsse. Demgegenüber gab es zum Beispiel in Berlin durchaus einen Mainstream von Analytikern, wie Carl Müller-Braunschweig oder Harald Schulz-Hencke, die die Psychoanalyse ausschließlich als Therapie etablieren wollten. Sigmund Freud selbst vertrat hier eine vorsichtigere liberalere Zwischenhaltung. So ist es kein Zufall, dass mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus die Vertreter einer existentiellen und entpolitisierten Psychoanalyse, wie Müller-Braunschweig und Schulz-Hencke, die Oberhand bekamen. Während die jüdischen Therapeuten sehr früh schon aus rassischen Gründen das Berliner psychoanalytische Institut verlassen mussten und ihrer Existenz beraubt wurden, mussten die übrigen kritischen Vertreter bald folgen. Auch sie passten nicht mehr ins Konzept. Keiner von ihnen allerdings nur deshalb, weil er Analytiker war. Denjenigen, die nicht sofort bereit waren, die Vereinigung der Psychotherapeuten zu verlassen, wurde mit sanftem Druck nahe gelegt, doch "um der Sache wegen" zu gehen. "Die Sache" war die reine Psychoanalyse, die man als Therapieform gegen die Politik retten wollte. Mit der Gründung des nach einem Verwandten des Reichsmarschals so genannten Göring Instituts 1936 war eine Neuordnung erreicht und die Fassade bewahrt. Von den Nazis zwar immer noch ein wenig beargwöhnt, hat es auf dieser Basis die Psychoanalyse – oder besser eine nur auf Technik und psychoanalytisches Handwerk reduzierte Abart von ihr – bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben. Derart verkürzt konnte der Psychoanalytiker Müller-Braunschweig problemlos verkünden, dass sie nunmehr mit der neuen "heroischen, realitätszugewandten, aufbauenden Lebensauffassung" vereinbar sei:

    "Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die der Wirklichkeit ins Auge zu sehen vermögen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern des Ganzen umzuformen. Dadurch leistet sie eine hervorragende Erziehungsarbeit."

    Der Soziologe Michael Schröter und der Psychoanalytiker Werner Bohleber zeigen in ihren Beiträgen sehr deutlich, dass dies angesichts der tatsächlichen Realität des Dritten Reiches nur die sagen konnten, die sich als Vertreter der reinen Wissenschaft verstanden. Diese vor 1933 im Grunde schon erkennbaren Tendenzen der Anpassung an jedwede politische Systeme waren ein guter Nährboden für die Verdrängungsarbeit auch innerhalb der Psychoanalyse in der Nachkriegszeit. Denn auch hier dominierten zunächst die auf die therapeutische Praxis reduzierten Analytiker. Indem die Existenz der Psychoanalyse im Dritten Reich nach dem Krieg weitgehend ignoriert wurde, verschwammen mit dem Neuaufbruch die Grenzen und blieben unverarbeitet. Eine schwere Hypothek für die Identitätsbildung deutscher Psychoanalytiker, wie sie Bohleber eindrucksvoll analysiert. Doch die Entwicklung in Österreich und Deutschland unterscheidet sich deutlich von der anderer Länder. So haben etwa norwegische Psychotherapeuten schon vor 1933 intensive Verbindungen zu kritischen Berliner Kollegen um Wilhelm Reich gepflegt. Auch nach der Besetzung Norwegens durch die Wehrmacht verstanden sich viele von ihnen weiterhin politisch, wie das Hâvard Friis Nilsen in seinem Aufsatz beschreibt:

    "Für die norwegischen Analytiker war die Psychoanalyse ein natürlicher Bestandteil eines emanzipierenden intellektuellen Repertoires, ein Gegenmittel gegen den Faschismus. Das bedeutete, dass die Psychoanalyse das allgemeine Klima der öffentlichen Meinung gegen den Faschismus in Norwegen maßgeblich mitprägte."

    Zwar nicht so ausgeprägt, aber doch vergleichbar, hat die Psychotherapie seit Beginn der Sowjetunion zwar keinen wirklichen Raum für sich gehabt, in Privatwohnungen wurde sie aber toleriert. Vermutlich weil sie keine echte Bedeutung hatte und eher eine Randexistenz fristete. In einem der interessanteren Aufsätze beschreibt der Moskauer Psychotherapeut Igor M. Kadyrov aus ganz unmittelbarer Kenntnis die Entwicklung im größeren historischen Zusammenhang – ausgehend von der Zeit noch vor der Gründung der Sowjetunion. Hier war die Psychoanalyse eingebettet in die gesundheitspolitische Reformbewegung, die dann nach 1917 wesentlich getragen wurde von der linken Opposition. Selbst nach deren Zerschlagung und in der Schattenexistenz blieben Elemente dieser Alternativbewegung erhalten. So spannend dieser Aspekt auch ist, so muss man sich doch fragen, wie weit die ganz unterschiedlichen Erfahrungen und politischen Kontexte von Europa bis nach Brasilien, die in diesem Band versammelt werden, wirklich vergleichbar sind. Die Einleitung stellt diese Frage zwar, ohne sie jedoch wirklich zu beantworten. Es kann nicht ausreichen, hier einfach Fallgeschichten nebeneinander zu stellen. Zumal dann wenn viele Autoren wenig mutig und sehr bemüht sind, einen wissenschaftlichen, alles absichernden Duktus einzunehmen, ohne Position zu beziehen. Die Detailverliebtheit mancher Autoren macht die Lektüre anstrengend. Eine stärkere redaktionelle Straffung hätte dem Band gut getan. Auf manchen Aufsatz hätte man in diesem Rahmen auch ganz verzichten können. So wird es einem schwerer gemacht als nötig, will man zu dem gelangen, was Werner Bohleber "Brüche psychoanalytischer Identität" nennt. Wie so oft ist das viel ambivalenter als mancher korrekte Wissenschaftler glauben mag.

    Mitchell G. Ash: "Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimen", Brandes & Apsel Verlag.