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Psychogramm des Wiener Großbürgertums

Mein "bestgebautes Stück" nannte der Dramatiker Arthur Schnitzler seine Tragikomödie "Das weite Land", die am 14. Oktober 1911 in Wien und an sieben weiteren deutschsprachigen Bühnen uraufgeführt wurde. Die Geschichte einer problematischen Ehe avancierte zu einem Klassiker des 20. Jahrhunderts.

Von Eberhard Spreng | 14.10.2011
    "Exposition matt, noch manches schnarrende im Dialog – als ganzes mein bestgebautes Stück, eine glänzende und so gut wie neue Hauptgestalt, inhaltlich viel zukunftsweisendes; in Nebendingen manches conventionell und billig."

    Zeit seines Lebens litt Arthur Schnitzler an starken Selbstzweifeln. Im Mai 1909 hatte er seiner Frau Olga und dem befreundeten Berliner Intendanten Otto Brahm seine Tragikomödie "Das weite Land" vorgelesen und diese Kritik ins Tagebuch notiert. Auch Brahm war zunächst nicht besonders beeindruckt, konnte aber zwei Jahre später an seinem Berliner Lessingtheater mit der Inszenierung des neuen Stücks des damals berühmtesten österreichischen Autors einen großen Publikumserfolg erleben. Nicht nur hier, auch in Wien und an sieben weiteren deutschsprachigen Bühnen wurde das Schauspiel am 14. Oktober 1911 uraufgeführt. Es erzählt die Geschichte der problematischen Ehe zwischen dem Fabrikanten Hofreiter und seiner Frau Genia, die zunächst eine fast unheimliche Treue an den Tag legt, während er sich als notorischer Ehebrecher erweist, der seinerseits die Freundschaften seiner Frau eifersüchtig überwacht.

    "Wenn ich auch ein Ehemann bin, Genia, ich bin kein Trottel, dass da etwas nicht stimmt, dafür leg ich meine Hand ins Feuer, also was ist gewesen zwischen euch'"

    Das Stück ist in seinem Aufbau ganz auf die zentrale Figur Hofreiters konzentriert und offenbart das Persönlichkeitsbild eines nach flüchtigem Genuss, nach Spiel und Abenteuer suchenden und doch emotional letztlich immer unbeteiligten Protagonisten, der seine Einsamkeit nie überwindet. Er trägt so auch einige Charakterzüge seines Autors, der bereits als 18-Jähriger vermerkt hatte:

    "Ich bin mir selbst zuwider, mein Gemüt geht leer aus, oder was im Gemüt ist, drängt sich krankhaft vor, Wesenlosigkeit des Lebens, wie doch alles nur geschieht der Langeweile zu entfliehen."

    Das Problem einer gewissen Bindungslosigkeit hatte Arthur Schnitzlers Kindheit geprägt und Zeit seines Lebens ist er dieser Erfahrung nachgegangen. Und so schickt er schließlich die Figuren seines Theaters auf eine von Freuds Psychoanalyse beeinflusste Reise:

    "Wir versuchen wohl, Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches ... Das Natürliche ... ist das Chaos. Ja, mein guter Hofreiter, die Seele ... ist ein weites Land."

    Das Jahr der Uraufführung war für Arthur Schnitzler von großen emotionalen Erschütterungen gezeichnet: Am 18. Mai stirbt der hoch verehrte Altersgenosse Gustav Mahler. Wenige Tage später spielt Schnitzler mit seiner Mutter Mahlers 5. Sinfonie auf dem heimischen Klavier. Kurz darauf erkrankt die Mutter tödlich. Zudem blickt der Dramatiker besorgt auf seinen kommenden 50. Geburtstag und den Altersunterschied zu seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Olga. Da hilft die Reise, die Schnitzler zu den Stationen seines jüngsten Theatererfolges unternimmt, u.a. nach Prag, Berlin, Hamburg und München. Allein am Wiener Premierenabend hatte das Publikum den Autor 24 Mal auf die Bühne geholt. Nur die Kritik hatte die Komplexität des Werkes nicht annähernd erfasst, - wie Schnitzler-Biograph Giuseppe Farese schrieb, - das subtile Spiel mit der Sprache, die Art und Weise, wie die Figuren sich hinter Masken verbergen und mit Konventionen kokettieren. Robert Musil jedoch ahnte etwas von der Bedeutung, die dieser moderne Klassiker in der Zukunft für europäische Bühnen haben sollte.

    "Es deutet sich darin eine Philosophie an, etwa des Inhalts, dass der Augenblick nichts ist als der wehmütige Punkt zwischen Verlangen und Erinnern. Dass leidenschaftliches Handeln nichts ist als eine Maske, hinter der der Mensch einsam bleibt."

    Nach berühmten Verfilmungen, der Pariser Inszenierung von Luc Bondy, nach Jürgen Flimms Regie in Hamburg und Andrea Breths Realisation in Salzburg wird "Das weite Land" bis in diese Tage immer wieder aufgeführt und neu ausgedeutet, unter anderem von dem Regisseur Tobias Wellemeyer.

    "Sicherlich kann man die Menschen, die der Schnitzler erzählt, beschreiben als die Menschen einer Klasse, einer Schicht, einer Welt, die untergeht. Das ist oft getan worden, wenn man genau hinschaut, beschreibt er Menschen in einer Übergangswelt. Sie haben alle die Chance, mit einer Kutsche zurück ins 19. Jahrhundert zu fahren, oder mit einem Auto vorwärts ins 20. Jahrhundert zu fahren."

    "Das weite Land" mit seinem Psychogramm des Wiener Großbürgertums, seiner seelischen Analyse von Menschen in historischen Umbruchzeiten zählt bis heute zu Schnitzlers erfolgreichsten Stücken. Und es bleibt für Schauspieler ungebrochen eine der großen, lohnenden Herausforderungen des Dramenrepertoires.