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Psychologe: "Technisierung ist die Illusion von Kontrolle"

Das Programm, das Jens Hoffmann von der TU Dortmund entwickelt hat, findet in 32 Fragen heraus, ob ein Schüler ein möglicher Amokläufer ist. Der Psychologe kritisiert, dass deutsche Schulen zu viel Wert auf Alarmsysteme legen.

Jens Hoffmann im Gespräch mit Sandra Pfister | 11.03.2011
    Sandra Pfister: Ein 17-Jähriger erschießt neun Mitschüler, drei Lehrerinnen und auf der Flucht noch drei weitere Menschen. Am Ende nimmt er sich selbst das Leben. Das war vor genau zwei Jahren. Winnenden ist der vorläufige Höhepunkt einer Reihe von Amokläufen, derer bislang weltweit 120 gezählt wurden. Wie können Schüler und Lehrer potenzielle Amokläufer erkennen? Der Psychologe Jens Hoffmann von der TU Darmstadt hat zusammen mit einem Kollegen eine Methode entwickelt. Herr Hoffmann, Ihr Computerprogramm stellt 32 Fragen und findet dann heraus, ob ein auffälliger Schüler ähnliche Risikokonstellationen aufweist wie ein Amokläufer. Was passiert, wenn das System Alarmstufe Rot meldet?

    Jens Hoffmann: Unser DyRIAS-System ist praktisch nur ein Werkzeug. Das Wichtige ist, dass zunächst an der Schule ein Krisenteam da ist, dass praktisch die Lehrer selbst für ihre Kollegen sensibilisieren, dass sie ein Netzwerk mit der Polizei mit psychiatrischen Einrichtungen aufgebaut haben. Und erst, wenn ein solches Netzwerk vorhanden ist, bekommt man überhaupt die Warnsignale mit und kann unser System nutzen und dann eine Bewertung vornehmen.

    Pfister: Das heißt, Ihr Früherkennungssystem, das greift nur dann, wenn ich es richtig verstehe, wenn Lehrer darin geschult wurden, die Risikofaktoren zu erkennen?

    Hoffmann: Genau.

    Pfister: Geschieht das denn in ausreichendem Umfang?

    Hoffmann: Wir haben uns auch sehr intensiv damit beschäftigt, warum Schüler Warnsignale nicht weitergeben. Wir haben beispielsweise mit einem jungen Mann gesprochen, der drei Jahre neben einem Amokläufer an einer deutschen Schule saß und gesagt hat, 'ich hab die Drohung schon mitbekommen, aber ich hab's versucht einer Lehrerin weiterzugeben. Die hat eher gesagt, 'ich will da nichts mit zu tun haben. Ich hab Angst gehabt, dass der von der Schule fliegt, dass die Polizei auf einmal im Schulhof steht.' Das heißt, die Schule muss zuerst ihre Hausaufgaben machen, eine Sensibilität schaffen, Ansprechbarkeiten schaffen und vor allem nicht überreagieren. Und dann praktisch ist ein solches Instrument sinnvoll.

    Pfister: Machen die Schulen das denn?

    Hoffmann: Sehr unterschiedlich. Es gibt Bundesländer wie beispielsweise im Saarland, da wird das jetzt flächendeckend eingeführt, also wir haben verschiedene Inseln. Das große Problem ist, dass Schulen immer sich nur darauf vorbereiten oder viele Schulen nur darauf vorbereiten: Was machen wir eigentlich, wenn eine solche Tat passiert? Wie verhalten wir uns, wie evakuieren wir? Aber dass wir mittlerweile wissen, dass jeder deutsche Fall vorher erkennbare Warnsignale gezeigt hat und die meisten dieser Warnsignale in der Schule und vor allem bei den Mitschülern aufgetreten sind, dass wir also eine große Chance zur Prävention haben, wenn wir sie an die Schule bringen, das hat sich leider noch nicht überall rumgesprochen.

    Pfister: Ich greif mal zwei kleine Warnsignale raus. Also zum Beispiel so eine Bemerkung wie, ich erschieß demnächst meinen Lehrer oder an dem werde ich mich rächen, das kann ja Wichtigtuerei sein.

    Hoffmann: Richtig.

    Pfister: Wenn das Raster so eng wird, dass am Ende jeder frustrierte Schüler da mit drin hängt, hilft das denn wirklich?

    Hoffmann: Das ist natürlich genau der falsche Ansatz, das ist, was wir gerade haben. Wir haben eine Art von Panikreaktion, Schnappatmung, Überreaktion, das ist falsch. Die richtige Strategie des sogenannten Bedrohungsmanagements ist: Achte auf Warnsignale - das können Krisensignale sein, das kann ein blöder Scherz sein -, aber man muss da drauf schauen. Das muss dann systematisch bewertet werden. Und für diese systematische Bewertung eines auffälligen Schülers ist eben das DyRIAS-System geeignet, konzipiert und funktioniert sehr gut.

    Pfister: Das ist Ihr Computersystem, das 32 Punkte abfragt, 32 Fragen stellt. Was passiert dann mit dieser Info? Also gesetzt der Fall, ein Lehrer, ein Amok-Beauftragter, gibt diese Fragen ein, gibt die Antworten ein, und es erscheint Alarmstufe Rot. Was macht der jetzt?

    Hoffmann: Was er dann macht, ist, er hat hoffentlich schon das Netzwerk, die Schule aufgebaut mit einem Team. Das heißt, er ruft den Polizeibeamten an, den er kennt, den schulpsychologischen Dienst, den er kennt. Dann setzt man sich zusammen und geht sozusagen an den Fall ran. Wenn es Rot anzeigt, was sehr selten ist, heißt das, man muss sehr schnell handeln, weil der Jugendliche sozusagen alle Warnsignale zeigt, die jugendliche Amokläufer vor der Tat gezeigt haben. Das heißt nicht, dass er die Tat begehen wird, weil man kann ja nicht die Zukunft vorhersagen, wir sagen nur, das ist die höchste Risikokonstellation von den Verhaltensmustern her. Es geht um viele Verhaltensweisen, die zusammenspielen. Und dann muss man sich eben sofort drum kümmern.

    Pfister: Und rückblickend, wie zutreffend war das System?

    Hoffmann: Das System - wir haben es praktisch anhand deutscher Fälle entwickelt -, das System hat alle deutschen Fälle richtig hoch eingeschätzt, und alle Fälle, die wir noch eingegeben haben praktisch, um das noch mal zu testen - aus den Niederlanden Drohungsfälle, Amokfälle aus Finnland und US-amerikanische Fälle hat das System jeweils praktisch das hohe Risiko erkannt.

    Pfister: Was kommt, nachdem Sie mit der Polizei, nachdem Lehrer mit der Polizei beispielsweise so ein Risiko besprochen haben, kommt dann so eine Art technische Prävention, damit man im Ernstfall schnell zuschlagen kann, schnell warnen kann?

    Hoffmann: Das Problem ist ja, dass wir in Deutschland einen technischen Glauben haben. Wir bauen Alarmknöpfe, wir nehmen irgendwelche Griffe innen, aber dass sich keiner um die problematischen Schüler kümmert, darum geht es ja.

    Pfister: Das heißt, Ihre Kritik zielt auch darauf ab, dass deutsche Schulen immer noch zu sehr auf Alarmsysteme Wert legen, also Amok-Schutzräume oder technische Warnsysteme, beispielsweise einen roten Knopf, mit dem die Schulsekretärin, wenn es denn schon brennt, den Alarmknopf auslösen kann?

    Hoffmann: Diese Technisierung ist die Illusion von Kontrolle. Es ist wichtig, solche Warnsysteme zu haben natürlich, man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen. Aber ich finde es heute unverantwortlich, wenn eine Schule - weil wir haben das Wissen, es gibt die Programme -, wenn eine Schule keine Struktur hat, keine Sensibilisierung hat, keine Gruppe von Lehrern hat, die sich drum kümmert, die die Warnsignale kennt, die vernetzt ist mit der lokalen Polizei, mit psychologischen Einrichtungen oder mit anderen Einrichtungen, die helfen, weil man wirklich damit wirksam Leben retten kann. Diese Sache, wir können nichts tun, stimmt nicht.

    Pfister: Liegt es nicht auch daran, dass die Lehrer jetzt schon chronisch überfordert sind?

    Hoffmann: Ich kann dieses Argument der chronischen Überforderung ehrlich gesagt auch nicht mehr hören. Für was wird denn gewissermaßen alles Arbeitszeit eingerichtet? Das braucht vielleicht eine Arbeitszeit von vier, fünf Stunden die Woche, mehr ist es doch nicht.

    Pfister: Jens Hoffmann hat ein computergestütztes Früherkennungssystem entwickelt, das potenzielle Amokläufer erkennen kann. Danke!

    Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt