Freitag, 19. April 2024

Archiv

Psychologie
Die Stimmen im Kopf bekämpfen

Das Stimmenhören ist wohl das bekannteste Symptom einer Psychose. Bei einem Viertel der Patienten helfen Medikamente allerdings nicht gegen die Halluzinationen. Psychologen vom University College London setzen zur Therapie nun auf den Einsatz virtueller Avatare.

Von Stefanie Schramm | 09.12.2013
    Der Patient sitzt vor dem Computer, auf dem Monitor erscheint eine animierte Frauengestalt, sie beschimpft den Mann mit scheppernder Computerstimme. Dann greift der Therapeut ein:
    "Verteidigen Sie sich, sagen Sie ihr, sie wollen diesen Unsinn nicht hören."
    "Ich will diesen Unsinn nicht hören."
    Doch der Quälgeist aus dem Computer gibt keine Ruhe.
    "Warum sagst du, das ist Unsinn?"
    "Weil es nicht stimmt."
    Das Dreiecks-Gespräch zwischen Patient, Computerfigur und Psychologe ist eine neue Therapie gegen das Stimmenhören, das viele Psychose-Patienten quält. Entwickelt hat sie Julian Leff, Psychiater am University College London. Er behandelt seit 40 Jahren Menschen, die an Psychosen erkrankt sind.
    "Wenn ich Menschen, die Stimmen hören, gefragt habe, was das Schlimmste daran ist, antworteten sie immer: Die Hilflosigkeit, ich kann nichts dagegen tun. Aber einige Patienten konnten sich mit ihren Stimmen unterhalten, sie hatten dann das Gefühl, sie hätten sie besser unter Kontrolle. Da dachte ich, wie könnte ich einen Dialog zwischen dem Patienten und dieser unsichtbaren Stimme schaffen?"
    Der Psychiater beschloss, den Stimmen ein Gesicht zu geben, mithilfe von Informatikern. Sie programmierten eine Software, mit der die Patienten Computerfiguren konstruieren können, die zu ihren Stimmen passen. In dem geschilderten Fall ist es eine Frau mit dunkelbraunen, fransigen Haaren, kleinen Augen und großer Nase. Durch diese Avatare spricht der Therapeut dann mit den Patienten, seine Stimme wird vom Computer verzerrt. Der Psychiater befindet sich dabei in einem anderen Raum, die Patienten können ihn nicht sehen. Er lässt die Avatare genau die Dinge sagen, mit denen die halluzinierten Stimmen den jeweiligen Patienten quälen. Es sind meist immer wieder dieselben Sätze.
    "Ich sage dann Sachen wie 'Schlag dich selbst ins Gesicht' oder 'Du verlässt besser das Land' oder 'Jemand ist hinter dir her' in der Avatar-Stimme. Und direkt danach sage ich den Patienten in meiner eigenen Stimme: 'Lassen Sie sich das nicht gefallen, sagen Sie dem Avatar, dass das Unsinn ist'."
    Obwohl die Figuren und die Computerstimme sehr künstlich sind, jagen sie den meisten Patienten Angst ein.
    "Am Anfang fürchten sich viele vor der Stimme, und sie sind sehr aufgeregt, wenn sie versuchen, die Kontrolle über den Avatar zu übernehmen. Ich muss ihnen viel Mut machen."
    Ein Patient jedoch ließ sich nicht so leicht verschrecken.
    "Er war sehr, sehr kämpferisch und sagte dem Avatar, er solle weggehen, ihn in Ruhe lassen. Es war der Teufel. Und dieser Teufel verschwand nach zwei Sitzungen. Das war bemerkenswert und übertraf meine Erwartungen bei weitem."
    Die Avatar-Therapie besteht aus sechs Sitzungen von je einer halben Stunde. Leff hat sie in einer Pilot-Studie an 26 Patienten getestet, die bis zu 30 Jahre lang unter akustischen Halluzinationen gelitten hatten.
    "Bei Dreien von ihnen sind die Stimmen zu meiner Überraschung komplett verstummt. Drei Monate nach der Therapie waren sie immer noch verschwunden. Und dieser Mann, der 16 Jahre lang die Stimme des Teufels gehört hatte, dankte mir dafür, dass ich ihm sein Leben zurückgegeben hätte."
    Die meisten anderen Patienten berichteten, dass ihre Stimmen leiser und seltener geworden seien. Nur zwei bemerkten überhaupt keine Verbesserung. Jetzt soll die Avatar-Therapie an 140 Patienten getestet werden, von verschiedenen Therapeuten. Leff und seine Kollegen haben dafür gut 1,5 Millionen Euro Forschungsgeld vom Wellcome Trust bekommen.
    "Es ist sehr wichtig, herauszufinden, ob andere Therapeuten ähnliche Erfolge erzielen können. Wenn das klappt, werden wir versuchen, diese Therapie allen zugänglich zu machen, die sie brauchen."
    Dann könnten mehr Patienten ihren Stimmen ein Gesicht geben – und ihnen so den Schrecken nehmen.