Samstag, 20. April 2024

Archiv


Pubertät als zweite Chance

Früher nannte man es Jugend, heute Pubertät: die Zeit, in der alles schwierig wird, Eltern, Freunde, das Leben überhaupt. In Berlin beschäftigten sich Psychotherapeuten und Psychologen auf einem Kongress mit den Chancen und Risiken dieser aufregenden Lebensphase.

Von Eva-Maria Götz | 22.09.2011
    Es ist eine verzwickte Sache mit dem Erwachsenwerden. Man bekommt Pickel und neigt dazu, sich über alles und jeden aufzuregen und gleichzeitig die eigene Unsicherheit hinter einer Mauer aus Coolness zu verdecken. Es ist die Phase der Emanzipation von den Eltern und der beginnenden körperlichen Reife. Die Zeit des Umbaus des Gehirns. Kurz gesagt: alles auf einmal. Es kann schwierig werden. Annette Streeck-Fischer, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychatrie des Klinikums Tiefenbrunn und Präsidentin des 8. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychologie:

    "Es ist eine instabile Phase, es kommt auch da zu einer Labilisierung, da spielen auch die Hormone eine Rolle, und auf der anderen Seite ist die Entwicklung bestimmter Hirnfähigkeiten, also zum Beispiel zu antizipieren, also vorwegzunehmen, zu planen, noch nicht abschließend entwickelt. "

    Essstörungen, Abhängigkeit von Alkohol- und anderen Drogen, Gewaltbereitschaft und auch die Selbstmordrate steigen gegenüber der Kinderzeit um 300 Prozent an.
    Romuald Brunner, Leitender Psychiater am Universitätsklinikum Heidelberg beobachtet eine Zunahme von Persönlichkeitsstörungen vor allem bei Mädchen.

    "Das hängt mit den Reifungsprozessen zusammen, der Bewältigung von Selbstständigkeitsanforderungen, Entwicklungsaufgaben, sich mit Gleichaltrigen zurecht zu finden, Aufnahme von Freundschaftsbeziehungen, von zuhause auszuziehen, Aufnahme von Ausbildung, das sind alles Belastungen, die bei empfindsamen Jugendlichen Symptomatik auslösen können."

    Und doch, allen Schwierigkeiten zum Trotz: In einer Gesellschaft, die nicht altern möchte und gleichzeitig immer älter wird, wird die Jugend immer attraktiver. Laut Definition der Vereinten Nationen umfasst Adoleszenz die Zeit zwischen dem zwölften und dem 19. Lebensjahr. Heute dehnt sich diese Lebensphase aus und dauert bis zum Ende der Zwanziger. Meint zumindest Jeffrey Arnett von der University of Maryland:

    "Es war so, dass Leute ihre Jugend in den Teenagerzeiten erlebten und dann in das Erwachsenenalter eintraten in den frühen Zwanzigern. Und dann lebte man sein junges Erwachsenenalter. Jetzt ist 30 die neue 20. "

    "Emerging Adulthood", also in etwa: "beginnendes Erwachsenenalter" nennt Arnett diese ausgedehnte Jugendzeit - ein Phänomen, das sich in den reichen Industrieländern Europas und Nordamerikas in den letzten 50 Jahren entwickelt hat.

    "Um das deutlich zu machen: das Durchschnittsalter, in dem man Eltern wird, liegt jetzt bei 30, vor 50 Jahren war es 20. Das macht einen großen Unterschied, ob man mit 20 oder 30 Jahren eine Familie gründet, da verbringt man seine Zwanziger anders. Dann ist die Ausbildung viel länger und differenzierter in allen entwickelten Ländern. Mit einer guten Ausbildung ist die Chance auf einen guten Job größer, die Leute werden länger ausgebildet als je zuvor. Dann hat die Geburtenkontrolle, haben Pille und andere Verhütungsmittel die Familien verändert, die Leute haben weniger Kinder und die meisten denken, die wenigen Kinder kann ich auch noch mit 30 bekommen. Und man ist toleranter gegenüber vorehelichem Sex. Niemand muss mehr heiraten, um ein geregeltes Sexleben zu haben.
    Und es gibt die Veränderung im Frauenbild. Vor 50 Jahren gab es wenig Möglichkeiten für junge Frauen, außer zu heiraten und Kinder zu bekommen und sie standen unter einem großen Druck, möglichst früh einen Mann zu finden und eine Familie zu gründen. "

    In den Wirren des 2. Weltkrieges und der Nachkriegszeit war das Erwachsensein eine Rolle, die man sehnlich erwartete, weil sie Stabilität verhieß und man in ihr gesellschaftlichen Respekt verdiente. Mit der sozialen Revolution der 60er-Jahre änderte sich das. Plötzlich stand die Jugendlichkeit höher im Kurs, sie verhieß Spaß und eine andere Bindung ans Leben, das Zauberwort hieß Selbstverwirklichung. In der Arbeitswelt ist das Ziel jetzt nicht mehr nur das Geldverdienen, sondern die Identifikation mit dem Job. Und in der Liebe? Jeffrey Arnett:


    "Liebe ist heute das Suchen nach einem Seelenverwandten. Zumindest in Amerika. Aber wohl auch weltweit ist das ein verbreitetes System und ein neues Konzept: Ein Seelenverwandter ist jemand, der einen wirklich gut behandelt. Der perfekt zu deiner Identität passt. Ein Seelenverwandter ist keine perfekte Person, ein Seelenverwandter ist perfekt für dich. Danach suchen die Leute heute und deswegen dauert es so lange, bis sie heiraten. In den Zwanzigern suchen die Leute nach diesem Seelenverwandten und danach nehmen sie, was sie kriegen können. "

    Adoleszenz ist für Arnett das Zeitalter der Möglichkeiten. Und das, obwohl diese Phase der Orientierung und Selbstfindung mit all ihren Brüchen in Liebe und Arbeit sehr leidvoll sein kann und oft auch noch verbunden ist mit nur beschränkten materiellen Mitteln. Aber: das Leben liegt noch vor einem. Ein unbeschriebenes Blatt. Alles scheint machbar.

    ""Aber sie glauben alle, dass die besseren Tage kommen werden. Nach einer nationalen Studie glauben 96 Prozent aller jungen Amerikaner, dass sie eines Tages da sein werden, wo sie hin möchten im Leben. Wow, 96 Prozent!"

    Von soviel Optimismus konnte Olayinka Omigbodun von der Universität Ibadan in Nigeria in ihrem Vortrag nicht berichten. Im Gegenteil. Dafür hatte sie eindrucksvolle Zahlen zu bieten:

    "Weltweit gibt es eine Milliarde Jugendliche, sie machen 20 Prozent der Welt- Bevölkerung aus. Jeder Neunte davon lebt in einem Entwicklungsland. Aber ab 2050 wird es in Afrika südlich der Sahara mehr Jugendliche geben als in allen anderen Gegenden der Welt zusammen. Darauf müssen wir uns vorbereiten."

    Und die Jugend vieler Afrikaner unterscheidet sich wesentlich von der in Europa und Nordamerika.

    "In meiner Kultur, den Yorubas aus Westafrika, haben wir eine Phase, die beginnt mit der Pubertät und endet mit der Heirat, die heißt "ibaudo". Aber wenn die Heirat das Ende der Jugend bedeutet, macht das große Definitionsprobleme, weil viele afrikanische Kulturen ihre Mädchen in einem sehr jungen Alter zur Heirat frei geben. Bei den Massai werden die Mädchen mit zwölf Jahren zur Hochzeit angeboten. Das ist dann oft mit der Genitalverstümmlung verbunden. Und dann kommt die Phase der kindlichen Mütter, 50 Prozent der jugendlich Verheirateten haben ein Kind bevor sie 20 sind, auch in meinem Heimatland werden die Mädchen zwischen zwölf und 13 verheiratet, sie dürfen oft nicht einmal ihre zweite Menstruation in ihrem Elternhaus erleben. "

    Und auch den Jungen geht es nicht besser. Sie gelten, so Olayinka Omigbodun, als erwachsen, wenn sie eine Waffe halten und töten können und werden dann oftmals Opfer von Gewalt in ihrem Umfeld. 95 Prozent aller Waisen leben in Afrika. Bis zu 90 Prozent der afrikanischen Jugendlichen leiden an traumatischen Erfahrungen, die sie bis zu ihrem 16. Lebensjahr gemacht haben.

    "Ein Jugendlicher erzählte: Ich war in einem verkehrsuntüchtigen Bus. Die Bremse fiel aus. Ich dachte, ich würde sterben. Ein Junge erzählte mir, dass er in seinem Haus war und um ihn herum geschossen wurde. Andere erzählen von Straßenkämpfen, sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen. Das sind einige Beispiele für traumatische Erfahrungen, die jungen Menschen in Entwicklungsländern zustoßen können."

    Entsprechend hoch ist die Selbstmordrate unter Kindern und Jugendlichen, doch Hilfsangebote gibt es kaum. Ein Ausweg wäre für Professor Omigbodun ein flächendeckendes Netz von Grundversorgungszentren, in denen neben den körperlichen Gebrechen auch die Seele behandelt wird und die in Zusammenarbeit mit Schulen, religiösen Gemeinschaften und Arbeitgebern auch Gewaltprävention, Verhütungshilfe und Aufklärung anbieten. Doch noch müssen die meisten Regierungen Afrikas von der Notwendigkeit solcher präventiven Maßnahmen überzeugt werden.

    In Australien ist man mit der Umsetzung eines Angebots für Jugendliche, die psychotherapeutische Hilfe brauchen, schon sehr viel weiter vorangekommen, berichtet dagegen Patrick McGorry von der Universität Melbourne:

    "Wir versuchen etwas zu machen, das so im 21. Jahrhundert verhaftet ist wie das iPhone, mit anderen Worten: eine positive, attraktive Sache. Junge Leute brauchen einen "one-stop-shop". Sie wollen nicht an fünf oder sechs Stationen gebracht werden, wenn sie Probleme haben. Sie wollen ihre Geschichte nicht fünf, sechs mal erzählen. Sie wollen eine konzentrierte multifunktionale Behandlung. "

    30 solcher Anlaufstationen für Jugendliche mit psychischen Problemen sind in den letzten zwei Jahren entstanden, in fünf Jahren sollen es über den Kontinent verteilt 90 solcher "Mental Health Care Center" sein.

    "Sie haben ein Schaufenster wie ein normales Geschäft und liegen im Herzen einer Innenstadt, in den Shopping-Centern. So sind sie wirklich niedrigschwellig und auch in Kleinstädten, wo das Stigma ein größeres Problem ist, sind sie sehr akzeptiert. Da steht auch nicht Gesundheitszentrum außen dran oder Psychatrische Klinik, es ist ein Vorsorgezentrum mit unterschiedlichen Serviceleistungen."

    In der adoleszenten Phase bis zum 25 Lebensjahr, so Patrick Mc Gorry, sind Jugendliche so anfällig für physische und psychische Krankheiten wie dann erst wieder jenseits der 50er. Deshalb ist eine auf die Bedürfnisse der Jugendlichen und jungen Erwachsenen abgestimmte schnelle Behandlung so wichtig.

    In Deutschland gibt es auf diesem Gebiet noch Nachholbedarf. So fordert Romuald Brunner von der Uni Heidelberg eine Kampagne zur Entstigmatisierung psychischer Störungen bei Jugendlichen. Und Kongress-Präsidentin Annette Streeck-Fischer wünscht sich eine Diagnostik, die den Jugendlichen genauer in den Blick nimmt und auf seine Bedürfnisse eingeht.

    "Auf der einen Seite ist die Kinderpsychiatrie, auf der anderen Seite die Erwachsenenpsychiatrie und dazwischen liegt die Adoleszenz, die eigentlich beide angeht. Das ist aber oft eine Phase, die eher vernachlässigt wird. Wir haben auch keine Diagnosen für dieses Lebensalter. Wir verwenden entweder die Kinderdiagnosen oder die Erwachsenendiagnosen, aber wie erfasst man das, diese Phase? Ohne dass man einen normalen Prozess pathologisiert?"

    Frühzeitiges Eingreifen und die Behandlung der ersten Symptome, darin waren sich die Psychologen und Psychotherapeuten aus allen Teilen der Welt einig, führt zu deutlich besseren Ergebnissen. Dann kann es so etwas geben wie eine zweite Chance für ein gutes Leben. Patrick McGorry:

    "Klassische Krankheitsbilder wie Psychosen und Schizophrenie werden erst erkannt, wenn sie schon mindestens zehn Jahre bestehen. Wir müssen früher ansetzten. Wir müssen feststellen können, auf welchem Zug einer fährt. Oder wenigstens, dass einer da auf einem Zug fährt und wo vielleicht noch eine Haltestelle ist. "