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Publizist Günther Bernd Ginzel
"Sie kamen als Idealisten"

Viele der Juden, die nach dem Holocaust aus dem Exil wieder nach Deutschland zurückkehrten, entschieden sich bewusst für die DDR. "Weil sie glaubten, dort herrschen die Antifaschisten", sagte der Publizist Günther Bernd Ginzel im DLF. Bei diesen Re-Immigranten habe es sich um eine enorm qualifizierte Minderheit gehandelt, die nicht religiös gebunden war.

Rüdiger Achenbach im Gespräch mit Günther Bernd Ginzel | 01.12.2014
    Der Publizist Günther Bernd Ginzel
    Der Publizist Günther Bernd Ginzel (picture alliance / dpa - Henning Kaiser)
    Rüdiger Achenbach: Herr Ginzel, wenn nach 1945 jüdische Rückkehrer nach Deutschland kamen, gingen sie vorzugsweise in die DDR oder zunächst noch in die sowjetische Besatzungszone. Wie ist das zu erklären?
    Günther Ginzel: Ich denke mir, dass ist damit zu erklären, dass es vor allen Dingen politisch Motivierte waren, die zurückkamen, die sich als im Exil befindlich empfanden – und zwar nicht nur weil sie als Juden verfolgt wurden, sondern weil sie eben auch als Antifaschisten Gegner des Dritten Reiches waren – und in der sowjetisch besetzten Zone nunmehr die deutsche Alternative zum deutschen Nationalsozialismus gesehen haben. Mit anderen Worten: sie sind in die SBZ und spätere DDR gegangen, was oftmals auch mit vielen Problemen verbunden war, weil sie glaubten, dort herrschen die Antifaschisten, dort herrschen die ähnlich wie sie gelitten haben, die Gegner waren, die jetzt ein anderes neues Deutschland aufbauen, nämlich das Deutschland, das die Antwort auf das Dritte Reich bietet.
    Achenbach: Also viele sahen in der DDR so etwas wie eine deutsche Antwort auf Auschwitz.
    Ginzel: Das kann man so verkürzt sagen. Wir müssen ja sehen. Es kamen verschiedene Rückkehrer-Ströme. Das waren zum einen diejenigen, die in der Illegalität im deutschen Herrschaftsbereich des Dritten Reiches geblieben waren. Das waren in Berlin noch immerhin drei-, vier-, fünftausend jüdische Menschen, die da versteckt waren - etwa auf dem dann Ost-Berliner jüdischen Friedhof Weißensee. Dann jene, die als Kommunisten in die Sowjetunion gegangen sind, dort oftmals verfolgt waren. Nicht wenige waren im Gulag. Trotzdem sind sie zurückgekehrt. Für sie symbolisierte Moskau und Russland sozusagen die Speerspitze des Kampfes gegen das Dritte Reich. Vor diesem Hintergrund, vor der Faszination eben auch der Treue zu den Idealen – um es mal pathetisch auszudrücken – der Arbeiterbewegung, weit über die Kommunisten hinaus, ist sozusagen das links-intellektuelle deutsch-jüdische Potenzial – so es zurückgekehrt ist – vor allen Dingen dorthin gegangen, wo sie das Gefühl hatten: Da sind wir zu Hause.
    Achenbach: Das heißt also, sie wollten ein anderes Deutschland mit aufbauen, ein Deutschland mit einer anderen Gesellschaftsordnung. Obwohl man ja ab 1948 dann auch die Chance gehabt hätte, in Israel mit aufzubauen.
    Ginzel: Das ist schon vollkommen richtig – dieser Hinweis. Aber ich kenne nicht wenige, die auch in Israel nie Fuß gefasst haben. Es sind diejenigen, die in den Westen, also in die Bundesrepublik gekommen sind, wie der wirklich wundervolle Rabbiner Raphael Geis, der dann in Düsseldorf war, der hier eine zentrale Figur für ein neues jüdisch-christliches Verhältnis wurde. Da sind andere, wie mein verstorbener Freund Helmut Eschwege, einer der wichtigsten jüdischen DDR-Historiker. Der saß in Palästina im Exil. Das war nicht sein Land, es war nicht die Wüste, es war nicht seine Sprache. Es hat ihm alles nicht gefallen. Das erste Schiff, das zurück fuhr, war sein Schiff.
    Achenbach: Es war nicht das kulturelle Umfeld, was er gewohnt war - Mitteleuropa.
    Der kulturelle Beitrag der Re-Immigranten
    Ginzel: Ja. Sie waren nicht die Mehrheit. Sie waren eine Minderheit, aber eine enorm qualifizierte Minderheit, die für die DDR von ganz entscheidender Bedeutung in den ersten 10, 20 Jahren waren, weil es natürlich außerordentlich viele Wissenschaftler, viele Kulturschaffende waren. Das Kulturleben, die Bühnen in der DDR waren geprägt von diesen Re-Immigranten. Auch die nicht-jüdischen wie Bertold Brecht - sie kamen als Idealisten. Das war ein Riesenproblem auch für die SED später. Dieses Potenzial war nicht gezwungen dort zu leben. Sie sind nicht von der SED überrollt und sozusagen gefangen worden, so nach dem Motto friss oder stirb. Sondern sie hatten sich frei entschieden und haben von dorther zu einem beträchtlichen Teil sich auch ein Stückchen innerer Freiheit behalten – bei aller unverbrüchlichen Treue tatsächlich zur DDR, die manchmal auch in Blindheit ausartete.
    Achenbach: Kann man denn auch sagen, dass jetzt wieder so etwas wie ein jüdisches Leben dort entstanden ist in der DDR? Also mal abgesehen von dem Aufbauwillen für eine neue Gesellschaftsordnung.
    Ginzel: Man muss sehen, dass die überwiegende Mehrheit derer, von denen wir jetzt gerade gesprochen haben, von den Re-Immigranten, nicht religiös gebunden war. Das Jüdische war für sie irrelevant. Die meisten waren Atheisten, zumindest standen sie der Religion distanziert gegenüber. Nun muss man ja sehen, die Sowjetunion mit ihren Basalen-Staaten war der größte Unterstützer für die Gründung des jüdischen Staates. Das heißt, man hatte die Hoffnung gerade weil es diese sozialrevolutionären Bewegungen gab. Ob die nun jetzt religiös gespeist waren wie bei Martin Buber, dessen religiöser Sozialismus durchaus kompatibel war mit kommunistischen Ansätzen, nämlich mit einer Gesellschaft der Gleichen unter Gleichen. Als der Staat Israel gegründet wurde, war der größte Arbeitgeber die Gewerkschaft. Alle schweren Industrieunternehmen gehörten der Gewerkschaft. Das war sozusagen einer der großen Träume. Die Sowjetunion hatte die Hoffnung gehabt, dass der Staat Israel sozusagen ihr Vorposten in der arabischen Welt wird. Als die dann registrierten – man hat Israel mit Waffen unterstützt, ganz anders als die USA, die dem Experiment jüdischer Staat gegenüber skeptisch standen – als sie dann merkten, das wird ein unabhängiger Staat, der – wenn überhaupt – eher der freiheitlich westlichen Demokratie zugeneigt ist und nicht der kommunistischen Diktatur, veränderte es sich. Es kam nach diesen anfänglichen Unterstützungen zu einem heftigen anti-zionistischen Kampagnen-Wettbewerb in den Ostblock-Staaten. Es gab Schau-Prozesse, es gab öffentliche Verfolgungen.
    Achenbach: In diesem Zusammenhang kann man ja dann auch 1952 den Slansky-Prozess erwähnen. Rudolf Slansky war ein Jude, ehemaliger Generalsekretär der kommunistischen Partei. Er wurde hingerichtet, weil man ihn eben auch beschuldigte ein Spion für den Westen zu sein. Mit ihm wurden elf andere Juden verhaftet und als Spione oder Verräter verurteilt. Von Prag aus ging diese Verhaftungs- und Verfolgungswelle über den gesamten Osten.
    "Sie wurden plötzlich auch wieder zu Sündenböcken"
    Ginzel: Ja. Es gab ein vergleichbares Prozess-Ritual in Ungarn, in Rumänien. In Polen war die Verfolgung außerordentlich. Sie müssen sich vorstellen, dass jetzt in den Ostblock-Staaten – und dazu gehört ja jetzt auch die DDR – die jüdisches Klientel, um es mal so zu sagen, die jetzt nach der Befreiung, zum Teil auch gefreite KZ-ler oder Re-Immigranten, die waren konform mit dem dortigen System und mussten jetzt erleben, dass sie von den kommunistischen Parteien und Regierenden mit einer ähnlichen Argumentation verfolgt wurden, wie etwas vorher vom katholischen Faschismus in Ungarn und Polen oder aber auch von den Nazis. Das heißt, sie wurden plötzlich auch wieder zu Sündenböcken. Denn zu diesem Zeitpunkt gab es generell große Zweifel an der Reformierbarkeit des Kommunismus in den Ostblockstaaten. Es gab Freiheitsbestrebungen, es gab die Überlegungen, natürlich ist Sozialismus wunderbar, aber wir wollen einen demokratischen, einen freiheitlichen Sozialismus und nicht einen, der unter der Diktatur von Moskau, die jedes Denken, jedes Empfinden erstickt, steht. Von daher brauchte man sozusagen diesen Sündenbock, um stellverstretend die Unterdrückung der Vasallenstaaten durchzuexerzieren.
    Die DDR war der einzige Staat, in dem es nicht zu Todesurteilen kam. Trotzdem wurden auch führende jüdische Funktionäre entlassen. Es hat die fürchterlich gequält und enttäuscht und in Verzweiflung getrieben. Aber es gab einen großen Unterschied zwischen der DDR und den übrigen. Es gab eben die da noch offene, mehr oder weniger offene Grenze zur BRD, zur Bundesrepublik. In dieser Situation hat der damalige Rabbiner, der damals noch in Berlin war, später in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nathan Peter Levinson, der in Amerika überlebte, der als amerikanischer Offizier und Armee-Rabbiner dann wieder nach Deutschland kam, der dann hier später geblieben ist, der hat dann gesagt: Hier muss etwas geschehen. Die jüdischen Menschen sind extrem gefährdet. Und der hat über den RIAS Berlin die jüdische Leitungsgremien aufgefordert, die Chance zu nutzen und zu flüchten.
    Achenbach: Was ja dann wohl auch überwiegend geschehen ist.
    Ginzel: Es ist praktisch die gesamte Leitungselite der jüdischen Gemeinden aus der DDR in den Westen geflohen. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt. Die einen sprechen von 500, andere sprechen von mehreren tausend. Jedenfalls – es hat einen regelrechten Exodus gegeben.
    Achenbach: Auch bekannte Leute wie Ernst Bloch, der Philosoph.
    Ginzel: Ernst Bloch, Hans Mayer. Aber Herr Achenbach, allein die Tatsache, dass so viele flüchten mussten, weist ja noch auf ein anderes Phänomen hin. Hier haben wir natürlich genau diejenigen, die das Gefühl hatten, hier bauen wir etwas Neues auf. Wir kommen nicht irgendwie zurück und haben ein gutes Leben, sondern nach dieser schrecklichen Nazi-Zeit bauen wir gemeinsam mit allen Gutwilligen und richtig Gesinnten eine neue Gesellschaft auf. Für die war das alles eine riesige Enttäuschung. Die jüdischen Gemeinden sind ganz klein geworden. Sie waren auch vorher schon nicht groß. Man schätzt die Zahl der Gemeindemitglieder dann in den 1980er-Jahren auf vielleicht 500 bis 800 Menschen, mehr nicht.
    Achenbach: Für das gesamte Gebiet der DDR?
    Ginzel: Für das gesamte Gebiet. Also Menschen, die auch im religiösen Kontext sich einer jüdischen Gemeinde angeschlossen haben. Und man schätzt die Zahl derer, die sozusagen einen jüdischen Hintergrund hatten, ohne dass sie selbst sich zum Judentum bekannten, auf etwa 5.000 – also eine wirklich verschwindende Minderheit.