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Puerto Rico
Massenexodus in die USA

Die Tropenstürme Irma und Maria haben in Puerto Rico deutliche Spuren hinterlassen. Zwei Monate später sind die meisten Orte immer noch verwüstet und vom Stromnetz abgeschnitten. Nun findet eine Migrationswelle wie in den 1950er Jahren in die USA statt. Allein im Oktober sind bereits mehr als 70.000 Puerto Ricaner nach Florida ausgewandert.

Anne-Katrin Mellmann | 14.11.2017
    Ein Mann bringt eine Plane über einem beschädigten Dach eines Ladens in Aibonito/Puerto Rico an.
    Aufräumarbeiten nach zwei Tropenstürmen - Alltag an vielen Orten in Puerto Rico (AFP / Ricardo Arduengo)
    Nur Einheimische tanzen am Sonntagnachmittag im Schatten der vom Sturm verschont gebliebenen Bäume. Kein Tourist fotografiert sie dabei oder tanzt mit. Das historische Zentrum von San Juan, sonst überlaufen von Kreuzfahrt- und anderen Touristen, ist zwei Monate nach den Hurrikans Irma und Maria immer noch leer.
    Viel karibische Lebensfreude ist der Hauptstadt abhanden gekommen. In einem Café im Zentrum schenkt der Wirt ungekühlte Getränke aus, weil es keinen Strom gibt. Fast alle Restaurants und Geschäfte sind immer noch vernagelt - auch aus Angst vor Plünderungen. Mit Einbruch der Dunkelheit ist die sonst quirlige Gegend wie ausgestorben.
    Umgeworfene Strommasten und Leitungen
    Im Hafen liegt ein US-Lazarettschiff, davor steht eine lange Schlange von Kranken. Die Kliniken auf der Insel können ohne Strom kaum arbeiten. Die Wirbelstürme haben Masten und Leitungen umgeworfen. Das US-Territorium verfügt nicht über die nötigen Mittel, den Schaden schnell zu reparieren. Auf den Brettern vor einem Schaufenster steht: "Puerto Rico wird wieder aufstehen - kommt herein und kauft". Luz Garcia hat für ihren Souvenirshop einen Stromgenerator. Das wichtigste funktioniert, aber Kundschaft kommt keine.
    "Wir mussten vieles stornieren, weil wir im Moment einfach kein Geld haben. Gott sei Dank unterstützen uns die Banken. Noch bis Januar müssen wir die Darlehen nicht zurückzahlen. Wir haben kein Geld für Gehälter, es reicht nur für das Allernötigste, fürs Essen, aber für Miete oder das Auto reicht es nicht. Nur zum Überleben", sagt Luz Garcia.
    Einige Stunden Licht am Abend
    Dank Stromgeneratoren kann eine Handvoll Hotels arbeiten. Die Chilenin Mariesol Moris hat in ihrem Bed & Breakfast am Abend für einige Stunden Licht und ihre Gäste können die Ventilatoren gegen die brütende Hitze einschalten.
    "Wenn bloß der Strom wieder funktionieren würde! Ich habe Anfragen von Leuten aus der ganzen Welt, und das Erste, was die mich fragen ist: Hast Du Strom? Weil ich das immer noch verneinen muss, stornieren dann viele. Das ist fast wie im Krieg: Kein Strom, oft kein Wasser."
    Zuerst traf Hurrikan Irma Puerto Rico: Mariesol Moris musste danach einen Teil ihres Terrassendachs reparieren. Kaum war sie damit fertig, kam der noch stärkere Wirbelsturm - Maria – und riss das Dach wieder fort. Maria zerstörte die Insel und den Tourismus, von dem 80 Prozent der Jobs abhängen. Schon vorher litt die Insel unter einer Wirtschaftskrise. Arbeitsminister Carlos Saavedra meint, gerade erst seien Silberstreifen am Horizont erkennbar gewesen – leicht sinkende Arbeitslosenzahlen. Aber dann kamen die beiden Hurrikans und die Hoffnung löste sich in stürmischer Luft auf:
    "Noch gibt es keine Statistiken, die die Hurrikan-Folgen belegen. Aber wir können jetzt schon sagen, dass viele tausend Puerto Ricaner ihre Arbeit verloren haben. Wir wissen erst einmal nur von denjenigen, die bei uns Unterstützung beantragt haben. Viele sind noch gar nicht gekommen, und viele haben Puerto Rico bereits verlassen."
    Migrationsausmaße wie in den 1950er Jahren
    Mehr als 70.000 Puerto Ricaner gingen allein im Oktober in den US-Bundesstaat Florida - weil sie können: Sie haben US-Pässe, ihre Insel gehört zu den USA. Die beiden Hurrikans haben die Migration beschleunigt: Sie könne Ausmaße erreichen wie in den 1950er Jahren, als Hunderttausende in die USA gingen, meint Demograf Raúl Figueroa. Heute leben dort mehr Puerto Ricaner als auf der Insel selbst.
    "Einige, die heute gehen, können wir als Flüchtlinge bezeichnen. Sie verlassen Puerto Rico, weil sie ohne Wasser und Strom einfach nicht durchhalten können. Und dann die Tausende, die wegen Hurrikan Maria ihre Arbeit verloren haben, weil ihr Geschäft zerstört wurde oder weil auf ihrer Arbeit kein Strom und somit auch kein Internet funktioniert. Viele suchen sich außerhalb der Insel einen Job, gehen mit ihren Familien in die USA. Anders als in den 1950er Jahren haben heute viele Verwandte auf dem Festland - das erleichtert den Umzug."
    Puerto Rico hat etwa dreieinhalb Millionen Einwohner. 2020 könnte es schon eine halbe Million weniger sein, schätzt Raúl Figueroa. Die Zahl derjenigen, die die Insel in Richtung US-Festland verlassen, werde sich sturmbedingt verdoppeln. Er selbst hat derzeit weder Strom noch Internet, will aber bleiben.
    Und auch Gastgeberin Marisol Moris will nicht aufgeben, sich künftig aber besser auf Katastrophen vorbereiten: "Ich habe schon zehn Hurrikan-Saisons miterlebt, aber so etwas noch nie. Ich dachte immer: die Puerto Ricaner übertreiben, wenn sie vor jeder Hurrikanwarnung Lebensmittel und Wasser horten. Das war so wie das Märchen vom bösen Wolf, der dann doch nie auftauchte. Aber dieses Mal kam er."