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Putins neue Militärdoktrin
"Eigentlich hat sich gar nicht so viel verändert"

Zum neuen Jahr eine neue Militärdoktrin: Doch dass der russische Staatschef Putin die Nato als die größte Bedrohung für sein Land nenne, sei alles andere als neu, sagte der Sicherheitsexperte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik, im Deutschlandfunk. Allein "der Ton mag sich etwas verschärft haben".

Markus Kaim im Gespräch mit Dirk Müller | 27.12.2014
    Der russische Präsident Wladimir Putin im Kreml.
    Der russische Präsident Wladimir Putin verkündet im Kreml eine "neue Militärdoktrin" - doch die russische Sicherheitspolitik hat sich laut dem Sicherheitsexperten Markus Kaim "gar nicht so viel verändert". (imago)
    Es sei nicht neu, dass die russische Führung Angst vor der Nato habe, sagte der Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik im DLF. Schon vor fünf Jahren seien die Osterweiterung des Militärbündnisses und die Stationierung von westlichen Truppen als zentrale Herausforderungen für die russische Sicherheit benannt worden. "Der Ton mag sich etwas verschärft haben und (...) an Bedeutung gewonnen haben, aber letztlich in der Einschätzung der Nato hat sich in den letzten fünf Jahren in den russischen sicherheitspolitischen Eliten eigentlich gar nicht so viel verändert."
    Kreml gibt sich als vollwertiger Akteur der internationalen Politik
    Verändert habe sich in den vergangenen Monaten das Rollenverständnis der Außen- und Sicherheitspolitik in Russland, sagte Kaim. Der Kreml wolle dem Volk signalisieren, dass Russland "als vollwertiger, gleichberechtigter Akteur in die internationalen Politik zurückgekehrt sei; dass man auf Augenhöhe mit den anderen Akteuren in der internationalen Politik spielen wolle; dass man ein stolzer und nationalbewusster Staat sei - und dieser Duktus, losgelöst von einer einzelnen Bedrohungseinschätzung, der scheint, glaube ich, die russische Politik gerade anzuleiten".
    Trotz der schwelenden Bedrohung habe Russland die Nato als relevanten Kooperationspartner in der internationalen Sicherheitspolitik angesehen, sagte Kaim. Noch im Januar sei die Abrüstung der syrischen Chemiewaffen im Mittelmeer gemeinsam geplant worden. "Dementsprechend ist es nicht ganz präzise, der Nato zu unterstellen, dass sie die russische Führung als ein Problem in der internationalen Politik begriffen hätte, was es einzuhegen gilt."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: In einer verlassenen Gegend nördlich der Rebellenhochburg Donezk, Schauplatz im Osten der Ukraine, hier werden die Gefangenen ausgetauscht zwischen den russischen Separatisten und den Regierungstruppen in Kiew. Auf den Austausch hatten sich beide Seiten bei den jüngsten Friedensgesprächen geeinigt. Es war aber auch das einzige Ergebnis der Verhandlungen.
    Der Austausch der Gefangenen, ein erstes Zeichen der Entspannung also im Osten der Ukraine, auch vielleicht ein Zeichen dafür, dass Kiew und Moskau nicht nur miteinander reden, sondern beide Seiten auch bereit sind, das einzuhalten, was sie ankündigen, das einzuhalten, was sie versprechen. Dennoch: Moskau revidiert jetzt seine Sicherheitsdoktrin, sieht eine Gefahr in der NATO, eine Gefahr im westlichen Militärbündnis wie auch eine Gefahr in der Ukraine. Denn Kiew hatte über die Weihnachtstage ihre Neutralität offiziell ad acta gelegt. Wir sind nun verbunden mit dem Sicherheitsexperten Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik, guten Tag nach Berlin!
    Markus Kaim: Guten Tag, ich grüße Sie!
    Müller: Herr Kaim, kann es sein, dass die Russen Angst haben vor der NATO?
    Kaim: Zumindest ist das keine neue Befürchtung. Wenn man mal die neue Doktrin der russischen Militär- und Sicherheitspolitik neben die alte aus dem Jahr 2010 legt, da stellt man fest, dass in weiten Teilen doch sehr ähnliche Töne anzutreffen sind. Auch vor fünf Jahren ist als zentrale Herausforderung für die russische Sicherheit benannt worden die NATO-Osterweiterung und die Stationierung von westlichen Truppen in der Peripherie Russlands. Das heißt, der Ton mag sich etwas verschärft haben und auch jetzt durch die Ankündigung der ukrainischen Regierung, sich der NATO weiter anzunähern, an Bedeutung gewonnen haben, aber letztlich in der Einschätzung der NATO hat sich in den letzten fünf Jahren in den russischen sicherheitspolitischen Eliten eigentlich gar nicht so viel verändert.
    Müller: Ja, aber wenn Sie jetzt bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Moskau beschäftigt wären, also eine russische Perspektive, wäre es dann denkbar, diesen russischen Blickwinkel ganz anders zu definieren, als wir das tun?
    Kaim: Ich glaube, die russische Einschätzung hat sich insofern verändert, weil es, glaube ich, weniger mit der NATO zu tun hat oder mit einem Verhalten, sondern mit einem veränderten Rollenverständnis der russischen Außen- und Sicherheitspolitik. Das ist ja in den letzten Monaten im Kontext der Ukraine-Krise auch in vielfältiger Art und Weise ausgedrückt worden von Präsident Putin und anderen Vertretern der Regierung, dass es jetzt darum geht, dass Russland sozusagen als vollwertiger, gleichberechtigter Akteur in die internationale Politik zurückgekehrt sei, dass man auf Augenhöhe mit den anderen Akteuren in der internationalen Politik spielen wolle, dass man ein stolzer nationalbewusster Staat sei. Und dieser Duktus, losgelöst von einzelnen Bedrohungseinschätzungen, der scheint, glaube ich, die russische Politik gerade anzuleiten.
    Müller: Also, Wladimir Putin setzt auf eine neue Taktik?
    Kaim: Ich glaube, es ist weniger eine neue Taktik, weil das Mischungsverhältnis von Konfrontation und Kooperation, auch das hat sich wenig verändert. Es gibt ja einzelne Bedrohungen, die jetzt genannt werden in dem neuen Dokument, insbesondere die politische Destabilisierung in der Welt und auch die Frage des Terrorismus, wo man ja mit etwas gutem Willen Anknüpfungspunkte für Kooperation lesen kann. Losgelöst von diesem konfrontativen Ton gegenüber der NATO sind das ja sicherheitspolitische Herausforderungen oder Bedrohungen, die Russland mit dem Westen teilt. Und das ist etwas, was eigentlich zum einen auch in der Vergangenheit betont worden ist und zweitens auch einen Funken von Hoffnung aufkommen lässt, dass es eine gemeinsame Interessenslage nach wie vor gibt.
    Müller: Schauen wir noch mal auf die russische Perspektive, darüber ist viel diskutiert worden jetzt im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise, auch jetzt haben SPD-Politiker, Außenpolitiker in den vergangenen Wochen unter anderem wieder darauf gedrängt, dass wir ein bisschen den Blickwinkel verändern, dass wir ein bisschen mehr Verständnis auch für die Befürchtungen, für die Analyse Moskaus aufwenden beziehungsweise entwickeln. Wir haben eine Ausdehnung der NATO, wie immer auch definiert, mehr Mitgliedsstaaten gibt es jetzt, die in der NATO sind, jetzt haben wir jüngst diese Entscheidung der Regierung in Kiew, eben die Neutralität aufzugeben. Es gibt ein Raketenabwehrsystem, es gibt ein größeres Raketenabwehrsystem, was von den Amerikanern geplant wird. Das heißt, objektive Bedrohungsszenarien oder auch Verteidigungsszenarien, je nachdem, wie man das sieht. Kann es sein – um an der ersten Frage jetzt wieder anzuknüpfen –, dass wir zu wenig sensibel sind, dass wir zu wenig Verständnis dafür haben, was die Russen bewegt?
    Kaim: Ich glaube, wir lassen uns den Blick ein bisschen dafür verstellen, was es ja an vertiefter Kooperation mit Russland gegeben hat, auch noch in die jüngste Vergangenheit hinein. Ich kann das ja mal an einem Beispiel festmachen: Noch im Januar gab es gemeinsame Planungen zwischen der NATO und Russland für die Abrüstung der syrischen Chemiewaffen im Mittelmeer. Das heißt, Russland ist von der NATO vielleicht nicht als strategischer Partner begriffen worden, aber als ein relevanter Kooperationspartner im Bereich der internationalen Sicherheitspolitik, und von Russland die NATO gleichermaßen. Und dementsprechend ist es nicht ganz präzise, der NATO zu unterstellen, dass sie die russische Führung als ein Problem in der internationalen Politik begriffen hätte, was es einzuhegen gilt. Aber was ich einräumen würde, ist, dass der Schritt gerade auch der ukrainischen Regierung, den Sie angesprochen haben, egal wie man ihn inhaltlich bewerten mag, jetzt in den letzten Tagen die Bündnisfreiheit zumindest infrage zu stellen, wenn nicht sogar ganz aufzugeben, zu einem etwas unglücklichen Zeitpunkt erfolgt ist. Weil, dieser Schritt muss natürlich zwangsläufig in Russland als Schritt zur weiteren Eskalation des Konflikts in der Ostukraine gelesen werden beziehungsweise erlaubt es Russland, sich einer Kompromissregelung weiter zu verweigern. Von daher, losgelöst vom Inhalt, glaube ich, ein taktisch unglückliches Verhalten der ukrainischen Führung.
    Müller: Also, es kann sein, dass die Regierung in Kiew sich damit einen Bärendienst erwiesen hat?
    Kaim: Vor allen Dingen deshalb meines Erachtens, weil auf absehbare Zeit sie nicht Mitglied der NATO werden wird. Die wichtigsten Akteure, die sich dem immer entgegengestellt haben seit 2008, nämlich die Bundesregierung und auch die französische Regierung, halten an ihrer ablehnenden Position weiter fest.
    Müller: Und das weiß man in Kiew?
    Kaim: Diese Signale sind relativ eindeutig gewesen, und auch der neue NATO-Generalsekretär hat der ukrainischen Führung nie etwas anderes versprochen. Und man hat ja auch festgestellt, dass die Resonanz auf diesen Schritt der ukrainischen Führung in den letzten Tagen in Brüssel und in vielen NATO-Hauptstädten sehr, sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen ablehnend gewesen sind.
    Müller: Aber auf der anderen Seite, Herr Kaim, weisen ja viele deutsche Außenpolitiker gerade aus dem Bundestag auch immer wieder darauf hin, dass jede Nation der NATO beitreten darf und kann, wenn sie das selbst entscheiden, wenn sie dafür ein demokratisches Votum hat und wenn die Kriterien, die Bedingungen stimmen in diesem Land. Alle anderen Mitglieder sind demokratisch, freiwillig beigetreten, warum soll das nicht für die Ukraine gelten?
    Kaim: Grundsätzlich bleibt die Tür für die Ukraine offen, das ist eine Selbstverpflichtung der NATO aus dem Jahr 2008. Aber es wäre einfach fatal, daraus einen Automatismus abzuleiten. Und auch in der Vergangenheit hat es ja zwischen der grundsätzlichen Entscheidung, den Weg in die NATO aufzunehmen, für ein Land, und dem eigentlichen Beitritt einen jahrelangen Transformationsprozess dieser Länder gegeben, der sowohl die Regierungsführung betrifft, die Transformation ihrer Sicherheitskräfte und vor allen Dingen auch die Frage, welches Verhältnis dieses mögliche Beitrittsland zu seinen Nachbarn unterhält. Und angesichts des noch schwelenden Konflikts in der Ostukraine zwischen der ukrainischen Regierung und russischen, prorussischen Separatisten, sehe ich vor allen Dingen diejenigen innerhalb der NATO Oberwasser haben, die unter Verweis auf diese ungeklärten Territorialfragen in den nächsten Jahren eine Vollmitgliedschaft der Ukraine in der NATO weiterhin ablehnen werden.
    Müller: Herr Kaim, zu der Erklärung aus Moskau, jetzt eben die Veränderung der Militärdoktrin, das ist unser Thema, wird auch genannt die Unterstützung extremistischer Kräfte im Norden Afrikas, im Irak, aber auch in Syrien, wie auch immer jetzt zu bewerten. Aber wenn wir das Beispiel Syrien nehmen, auch da wieder die Frageformel: Kann es sein, dass wir durch die zögerliche Haltung in Syrien und durch die klare Haltung gegen Baschar al Assad es verpasst haben, das Regime dort so zu stabilisieren, dass IS nicht hätte stattfinden können?
    Kaim: Ich glaube, ich würde die Verbindung zu Russland etwas anders ziehen, und zwar: Die westliche Politik hat sich ja, ich würde sagen, etwas unklug und etwas voreilig sehr, sehr schnell darauf festgelegt, dass die Zeit von Präsident Assad zu Ende sei, dass es eines Regimewechsels bedürfe.
    Müller: Im Gegenteil zu Moskau.
    Kaim: Im Gegensatz zu Moskau. Und ich glaube, das reflektiert eine Art Urangst der russischen Führung, die jetzt auch in der gesamten Militärdoktrin deutlich wird, dass letztlich hinter dem ganzen westlichen Bemühen der Versuch eines Regimewechsels stünde. Das habe in der Ukraine funktioniert und letztlich ziele die westliche Politik, auch gerade das Sanktionsregime der Europäischen Union und der USA, gar nicht auf eine Verhaltensänderung Moskaus, sondern ziele auf einen Regimewechsel in Moskau selber. Und das ist, glaube ich, so die Urangst, die die russische Führung nicht nur für sich selber, also in Russland sieht, sondern in vielen Regimen auch in anderen Regionen der Welt. Und Syrien ist eines davon und das erklärt die intransigente Politik der russischen Führung.
    Müller: Aber Sie haben das gerade als Beispiel genannt, also einmal Kiew, Regimewechsel, dann das Ziel, in Damaskus ebenfalls einen Regimewechsel herbeizuführen. Sie haben das ein bisschen im Konjunktiv formuliert, kann man das ein bisschen im Indikativ formulieren?
    Kaim: Ja, die westliche Politik gegenüber Syrien ist ja gerade im Fluss begriffen. Aber ich glaube tatsächlich, dass die westliche Politik oder viele westliche Hauptstädte verstanden haben, dass diese frühe Festlegung, Assad müsse weg, seine Zeit sei abgelaufen, dass die voreilig gewesen ist, dass sie auch jenseits der Verfügungsgewalt der westlichen Hauptstädte gewesen ist, weil sie letztlich auch nicht viel dafür getan haben. Sie haben seit Jahren die Freie Syrische Armee oder die oppositionellen Kräfte nicht sonderlich unterstützt und dementsprechend sind das rhetorische Bekundungen. Aber die sind in Moskau auf sehr, sehr offene Ohren gefallen. Und ich glaube, ein wichtiges Signal, so schwer das sein wird, um mit Russland wieder ins Geschäft zu kommen, wenn ich das so sagen darf, wird losgelöst von allen völkerrechtlichen Verpflichtungen ein politisches Signal sein müssen, dass der Westen tatsächlich so etwas wie einen Regimewechsel im postsowjetischen Raum, in der russischen Peripherie oder in der russischen Einflusssphäre, wenn man so möchte, in absehbarer Zeit nicht weiter verfolgen wird.
    Müller: Herr Kaim, noch ganz kurz zum Schluss: Man könnte also sagen, demnach hat der Westen das Erstarken, das Vordringen des IS-Staates ermöglicht?
    Kaim: Zumindest durch seine Politik in Syrien ... Er hat es vielleicht nicht aktiv befördert, aber es hat zumindest ein strategisches Vakuum in Syrien hinterlassen, in das dann der IS hineinstoßen konnte.
    Müller: Der Sicherheitsexperte Markus Kaim bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Danke Ihnen für das Gespräch, noch ein schönes Wochenende!
    Kaim: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.