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Putschversuch
Die undurchsichtige Rolle der Armeespitze

Seit dem Ende des Putschversuchs sind fast 40 Prozent der Generäle entlassen worden, über 1.600 Angehörige des Militärs wurden eingesperrt. Die offizielle und strikte Linie im Land ist: Die Gülen-Bewegung steckt hinter dem Coup. Experten bezweifeln das. Denn auch die Rolle der Armeespitze gibt Anlass für Spekulationen.

Von Daniel Heinrich | 29.07.2016
    Unterstützer von Präsident Erdogan jubeln auf einer Brücke über den Bosporus nach dem gescheiterten Putsch
    Unterstützer von Präsident Erdogan jubeln auf einer Brücke über den Bosporus nach dem gescheiterten Putsch (dpa / picture-alliance / Str)
    Jeden Tag kommen sie hier zusammen, im Stadtzentrum von Istanbul und protestieren "Für Demokratie". Es sind primär Anhänger des Präsidenten Tayyip Erdogan, die hier protestieren. Aber auch oppositionelle Türken zeigen sich solidarisch gegen den Coup. Sibel möchte ihren Nachnamen nicht sagen. Sie trägt ein Kopftuch in den Farben der türkischen Flagge und auch sonst erweist sie sich als wahre Patriotin.
    "Wir sind hier, um dagegen zu protestieren, was der Türkei, was unserem Land angetan wurde. Diese Terroristen können uns nichts anhaben. Sie können uns nicht bedrohen. Das wollen wir zeigen. Wir demonstrieren hier für den Frieden. Und eines sage ich Ihnen. Viele Grüße nach Pennsylvania. Ihr werdet hier auf keinen Fall einen Fuß auf den Boden bekommen."
    Pennsylvania: Dieser so weit entfernte US-Bundesstaat ist von offizieller Seite inzwischen zum Synonym geworden für alles Schlechte, für alles Gefährliche was seit der Putschnacht des 15. Juli passiert ist. Pennsylvania ist der Wohnort des türkischen Predigers Fetullah Gülen. Seit Ende der 90er-Jahre lebt er dort in einem streng bewachten Anwesen im Exil. Mantraartig verbreitet die Regierung diese Interpretation der Ereignisse des Putsches. Für den Soziologen Ferhat Kental ist die Sache bei Weitem nicht so einfach:
    "Es ist nicht so einfach, die Lage zu beurteilen. Das Netzwerk von Fetullah Gülen, das ist so weitverzweigt. Die haben so gute Kontakte, auch in die Armee hinein. Ich stelle mir allerdings schon die Frage: Waren alle Leute, die in der Armee an dem Coup partizipiert haben, waren das alles Anhänger Fetullah Gülens? Ich kann das nicht glauben. Die türkische Armee ist riesig. Und es gibt so viele Teile in dieser Armee mit den unterschiedlichsten Interessengruppen."
    Angst vor den Folgen des Putschversuchs
    Meltem Cumbul ist in der Türkei ein echter Promi, ein TV-Star. Mit Zehntausend anderen nimmt die 46-Jährige teil an einer Großdemonstration der größten Oppositionspartei.
    "Gerade fürchten wir um den Säkularismus, die Trennung von Religion und Politik in unserem Land. Wir fürchten um die Kultur in unserem Land. Sehen Sie nur das Gebäude dort hinten. Das war mal eine Oper. Das war mal ein Theater. Sie haben uns das weggenommen. Sie haben einen Ort für politische Propaganda daraus gemacht."
    Während sie spricht, deutet sie auf das Gebäude hinter sich. Das ehemalige Operngebäude steht an prägnanter Stelle genau am Taksim-Platz im Herzen Istanbuls. Überlebensgroß ist es eingehüllt in den türkischen Nationalfarben. "DAS VOLK IST DER SOUVERÄN" steht in weißen Buchstaben auf rotem Grund. Ein paar Meter weiter ist das Volk sich dessen gar nicht so sicher. Die 70-jährige Sühreyla sitzt im Schatten eines Baumes. Sie hat den Glauben an das Schicksal des Landes schon lange verloren.
    "Ganz ehrlich. Die stecken doch alle unter einer Decke. Tayyip Erdogan und Fetullah Gülen, die kennen sich doch schon Ewigkeiten. Die arbeiten doch zusammen. Die haben doch einen gemeinsamen Plan. Die haben doch ein gemeinsames Ziel. Und wir, das türkische Volk, die Republik. Wir werden dazwischen zerrieben."
    Rolle der Armeespitze während des Putschversuchs
    So viele Haltungen scheinen unklar dieser Tage. Für den Sicherheitsexperten Ecevit Kilic ist allerdings eines klar. Es hätte nicht viel gefehlt in dieser Nacht und der Putsch hätte erfolgreich sein können.
    "Das große Problem, das die Putschisten hatten, war, dass sie nicht die Unterstützung der Armeeführung erhalten haben. Wenn die Armeeführung sich auf ihre Seite gestellt hätte, dann wäre der Coup erfolgreich verlaufen. Die Haltung der Armeespitze ist hochinteressant. Die haben sich zunächst gar nicht geäußert. Haben abgewartet. Meine Meinung ist. Wenn die Putschisten Erfolg gehabt hätten, dann hätte sich die Armeeführung auf deren Seite gestellt. Und hätten den Coup sozusagen übernommen."
    Die Bewertung der Putschnacht. Die Fragen, die sich daraus ergeben. Es wird noch lange dauern bis sie aufgeklärt sind. Angesichts der Säuberungsaktionen scheint nur eines klar: Die Regierung lässt nichts unversucht um mit aller Härte gegen alle vorzugehen, die vermeintlich mit dem Putsch in Verbindung stehen.