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Putschversuch in der Türkei
"Militär-Diktatur ist kein Ersatz für Erdogan-Diktatur"

Präsident Erdogan werde alles tun, damit sich ein solcher Putsch nicht wiederhole, sagte Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, im Deutschlandfunk. Er zeigte sich besorgt um Pressefreiheit und Opposition in der Türkei. Erdogan behaupte im Zweifel einfach, alle Gegner seien Terroristen und Putschisten.

Cem Özdemir im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 16.07.2016
    Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, spricht am 14.05.2016 beim Landesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen in Rheinland-Pfalz in Lahnstein.
    Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, spricht am 14.05.2016 beim Landesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen in Rheinland-Pfalz in Lahnstein. (picture allaince / dpa / Thomas Frey)
    In der jetzigen Situation sei es für niemanden gut, sich Erdogan in den Weg zu stellen, betonte Özdemir. Erdogan werde alles dafür tun, dass sich solche Ereignisse nicht wiederholten. Der Präsident sei im Moment extrem misstrauisch und rechne damit, dass sich jemand aus seinem Umfeld gegen ihn stelle. Deshalb umgebe Erdogan sich auch mit Prinzen. Und deshalb sei der Zweck der Macht Erdogan selbst und nichts anderes.
    Man habe gestern einen Eindruck bekommen können, wie es um die Pressefreiheit gestellt sei. Um die noch freien Medien müsse man sich große Sorgen machen, stellte Özdemir klar. Im Zweifel mache Erdogan es sich einfach: Er behaupte, seine Gegner seien Terroristen oder in diesem Fall Putschisten. Und müsse sich dann für nichts mehr rechtfertigen. Özdemir unterstrich, es gebe keine Sicherheit für Oppositionelle.
    Wenn Erdogan eines Tages nicht mehr Präsident sein sollte, dann müsse das an der Wahlurne geschehen. Ein Putsch könne keine Lösung sein. Der Ersatz einer Erdogan-Diktatur könne nicht eine Militär-Diktatur sein. Man solle die zarten Pflänzchen der Opposition hegen. Man müsse über die NATO und die EU deutlich machen, dass dies Wertegemeinschaften der Demokratie und Menschenrechte seien. Das sehe man im Moment in der Türkei anderes. Dort gehe man davon aus, dass die Demokratie die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit sei.

    Das komplette Gespräch zum Nachlesen:
    Jürgen Zurheide: Was ist da heute Nacht passiert in der Türkei? Es gibt ganz unterschiedliche Informationen, oder sollte man besser sagen, Einschätzungen? Ist das etwas gewesen, was inszeniert worden ist – am Ende scheint es Erdogan zu nutzen –, oder nutzt Erdogan das, was andere da ins Werk gesetzt haben, möglicherweise einigermaßen dilettantisch? Über dieses Thema wollen wir reden und es auch politisch bewerten mit Cem Özdemir von den Grünen, den ich am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Özdemir!
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Haben Sie schon eine Antwort auf die Frage, die ich da gerade versucht habe zu formulieren?
    Özdemir: Wenn man die Türkei kennt, ist man immer sehr schnell mit Verschwörungstheorien zur Hand, aber offensichtlich gab es diesen Putschversuch. Ich glaube nicht, dass es ein inszenierter Putschversuch war. Aber eines ist jedenfalls klar: Dieser Putschversuch, wenn er denn endgültig beendet ist, den wird Erdogan nutzen. Und man wird auch die türkische Armee danach nicht mehr wiedererkennen.
    Zurheide: Das ist genau, was man befürchten muss. Wir haben den Satz heute in der Sendung mehrfach schon zitiert. "Sie sind ein Geschenk Gottes für uns, diese Attacke", das hat Erdogan gesagt, und jetzt heißt es "wir säubern". Allein diese Begrifflichkeiten, die lassen einen ja schaudern, bei allem Verständnis dafür, dass natürlich ein Putsch erst mal kein akzeptiertes Mittel sein kann. Was hinterlässt das bei Ihnen, diese Begrifflichkeiten? Oder sind wir da, bin ich da zu sensibel?
    Özdemir: Nein, das sind wir nicht. Und das sind Sie nicht. Und es kommt ja hinzu, der Putsch ist ja nicht von Erdogan allein abgewendet worden, sondern von der ganzen Türkei. Auch die Opposition hat sich ja gegen die Putschisten gestellt. Denn man erinnert sich in der Türkei, was Putsch bedeutet. Nehmen Sie allein den letzten offiziellen Putsch von 1980: 650.000 Gefangene, ungezählte Foltertote, Menschen, die die Türkei verlassen mussten und so weiter. Das heißt, Putsch heißt nichts Gutes in der Türkei. Das heißt, dass man auf dem Weg befindliche Erdogan-Diktatur durch eine Militärdiktatur ersetzt hätte. Insofern war klar, dass die Menschen nicht mitmachen. Aber das, was Erdogan jetzt vorhat, ist das, was er bereits angefangen hat, nämlich dass immer mehr Bereiche des Staates ihm direkt unterstellt werden, dass Parallelinstitutionen geschaffen werden dort, wo er die hundertprozentige Kontrolle nicht hat, wie bei der Justiz. Das wird es jetzt wohl auch bei der Armee geben. Erdogan misstraut allen und allem. Und er wird dafür sorgen, dass so was sich nie wieder ereignen kann.
    Zurheide: Was heißt das für die türkische Gesellschaft, die ja ohnehin, so wird es zumindest immer geschildert, gespalten ist. Es gibt eine Mehrheit im Moment für Erdogan. Es gibt dagegen Oppositionsparteien, die nicht gemeinsam arbeiten. Im Moment werden sie quasi gezwungen, für ihn Stellung zu nehmen, oder?
    Özdemir: Der Zweck der Macht ist Erdogan und nichts anderes
    Özdemir: So ist es. In der jetzigen Situation ist es, glaube ich, für niemanden ratsam, sich ihm in den Weg zu stellen, wenn man will, dass es einem gut geht. Und zugleich darf man ja auch nicht vergessen, es gibt ja in der Türkei auch eine für die Region erstaunlich starke Zivilgesellschaft. Auch da wird man wohl davon ausgehen müssen, dass Erdogan alles dafür tun wird, so wie er es ja schon nach dem Gezi-Aufstand gemacht hat, dass sich so was nie wieder wiederholen kann. Er ist mittlerweile in extremster Weise misstrauisch, ängstlich, erwartet, dass auch aus seinem engsten Umfeld es Illoyalität geben könnte. Und darum hat er sich mit Prinzen umstellt. Der Erdogan von heute hat mit dem Erdogan, wie wir ihn aus dem Westen von den Anfangsjahren kennen, nichts mehr zu tun. Damals gab es liberale Kräfte in der AKP, damals gab es auch noch mehrere Kraftzentren. Mittlerweile gibt es noch genau eines, und das heißt Erdogan. Und der Zweck der Macht ist Erdogan und nichts anderes.
    Zurheide: Ich habe vorhin in der Sendung den AKP-Abgeordneten Yeneroglu gefragt, was das alles für die Pressefreiheit heißt. Er fand, das sei eine unbotmäßige Frage in diesem Zusammenhang, wo er dann noch im Bunker sitzt. Ich bleibe dabei, ich finde die Frage nicht unbotsam. Was heißt das für die Pressefreiheit, die da im Moment in Gefahr ist in der Türkei?
    Özdemir: Wenn man gestern die Medien eingeschaltet hat, da konnte man ja schon so ein bisschen einen Eindruck in der Türkei bekommen, wie es um die Pressefreiheit bestellt ist. Die meisten Zeitungen sind bereits dem Erdogan-Imperium unterstellt. Ähnliches gilt für die Fernsehkanäle. Und das, was jetzt noch übrig ist, die Tageszeitung "Cum Hürriyet" oder Imec-TV, die ja mittlerweile auch nur noch übers Internet senden können, um die muss man sich große Sorgen machen. Denn das ist klar, Erdogan wird auch hier sicherlich seinen langen Arm ausstrecken und dafür sorgen, dass kritische Berichterstattung auch von dort nicht mehr erfolgen kann. Und im Zweifelsfall macht er es sich eben einfach wie nach der Armenienresolution in Deutschland: Das sind dann eben kurzerhand alles Terroristen, in diesem Fall jetzt Unterstützer des Putsches. Er muss sich dafür nirgendwo rechtfertigen, niemand kann ihn infrage stellen. Er kann es eben behaupten oder er lässt es behaupten durch seine Trolls, und dann ist das eben so.
    Zurheide: Der Chefredakteur von "Cum Hürriyet", Can Dündar, ist ja im Moment im Ausland, weil ihm bedeutet wurde, er sei an Leib und Leben bedroht, abgesehen davon, dass ihm die Gefängnisstrafe droht. Er ist im Moment im Ausland. Das ist doch eine Katastrophe.
    Özdemir: Es gibt keine Sicherheit für Oppositionelle
    Özdemir: Das ist so. Und das mit der Bedrohung, das würde ich schon sehr ernst nehmen. Denn Sie haben ja wahrscheinlich in Erinnerung, dass er, als er das Gerichtsgebäude das letzte Mal verlassen hat, jemand versucht hat, auf ihn zu schießen. Das heißt, der Staat, der sonst ja, wenn er möchte, Sicherheit durchaus gewährleisten kann – in dem Fall gibt es keine Sicherheit für Oppositionelle. Auch die müssen sich große Sorgen machen um ihre Sicherheit in der Türkei.
    Zurheide: Insgesamt dreht er den Staat in die Richtung, wie er will. Ich will etwas ansprechen, was möglicherweise mit den aktuellen Ereignissen nicht zusammenhängt, aber vielleicht doch. So etwas wie die Hagia Sophia ist wieder umfunktioniert worden zu einer Moschee. Es war ja ein Symbol für etwas ganz anderes. Dass es jetzt eine Moschee ist, ist ein Symbol wofür, Herr Özdemir?
    Özdemir: Das ist ein Symbol für den Sieg, für den nachträglichen Sieg über die Republik, für den nachträglichen Sieg darüber, dass Atatürk bei allem, was man sonst von Atatürk halten mag, etwas sehr Kluges gemacht hat, nämlich, dass er nach der Gründung der Republik die Hagia Sophia in ein Museum verwandelt hat. Und damit geöffnet hat für alle Religionen, für alle Konfessionen, für Atheisten, Gläubige gleichermaßen, die die Hagia Sophia und ihre einmalige Schönheit bewundern können. Die Rückverwandlung in eine Moschee, indem jetzt dort Gebete stattfinden und schrittweise dieser Prozess, dass es ein Museum ist, rückabgewickelt wird, das ist noch mal so ein spätes Signal, wir haben gesiegt über das Christentum, wir haben gesiegt über Byzanz, wir sind unbesiegbar. Das zahlt ein in dieses Hybrisgefühl, das sich da in Ankara breit macht und mit dem man versucht eben, die Leute in einen permanenten Begeisterungssturm zu wickeln. Damit man nicht fragt nach Arbeitslosigkeit, damit man nicht fragt nach Defiziten, nach außenpolitischer Isolation. Im Grunde muss Herr Erdogan bei dieser permanenten Eskalation und bei den Problemen der Türkei immer dafür sorgen, dass es eben andere Themen gibt auf der Tagesordnung, die er bestimmt. Dazu gehört auch das Thema Hagia Sophia, mit Sicherheit.
    Zurheide: Wie sehr befremdet es Sie, wenn Sie die ganzen Reaktionen von europäischen Verantwortlichen, auch von Präsident Obama hören, die alle sagen, die Demokratie muss siegen, und dann Erdogan in einem Atemzug genannt wird? Ich gebe gerne zu, mich befremdet das.
    Özdemir: Ja, da sprechen Sie ein Dilemma an. Auf der anderen Seite ist aber auch klar: Wenn Erdogan eines Tages nicht mehr Präsident sein sollte, und man kann das der Türkei eigentlich nur wünschen, wenn man es gut meint mit der Türkei, dann muss das an der Wahlurne passieren. Das wird sicherlich zunehmend schwerer, aber Putsch kann keine Lösung sein. Und wenn man dann noch weiß, dass die Ziele der Putschisten sicherlich nicht die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie der Menschenrechte und von ethnischer und religiöser Vielfalt sind, dann weiß man, dass der Ersatz einer Erdogan-Diktatur sicherlich nicht eine Militärdiktatur sein sollte. Was die Türkei braucht, ist Demokratie für jeden in der Türkei.
    Zurheide: Was kann man im Moment von außen tun? Was können Sie tun?
    Özdemir: Ich befürchte, nicht viel, wenn man ehrlich ist, sondern was man nur tun kann, ist eben, dass man die zarten Pflänzchen, die es noch gibt in der Opposition, nicht allein lässt, dass man sich mit ihnen solidarisiert und dass man aber natürlich auch deutlich macht über die Hebel, die wir haben, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei – das ist allerdings kein kräftiger Hebel mehr, weil er auch von Europa geschwächt wurde durch die sogenannte privilegierte Partnerschaft, über die NATO deutlich macht: Europäische Union, NATO sind Wertgemeinschaften. Das ist nicht nur eine Freihandelszone und ein Militärbündnis. Zu diesen Werten gehören Demokratie, Menschenrechte. Und Demokratie und Menschenrechte gelten auch für die, die einen nicht gewählt haben, gelten auch für die Opposition. Das sieht man gegenwärtig in der Türkei anders. Dort geht man davon aus, dass Demokratie die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit ist.
    Zurheide: Cem Özdemir war das, der grüne Parteichef. Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch heute Morgen. Auf bald. Danke schön, auf Wiederhören!
    Özdemir: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.