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Putzi am Piano

Der Name Ernst Franz Sedgwick Hanfstaengl ist heute so gut wie vergessen. Das zu ändern hat sich der britische Journalist Peter Conradi vorgenommen. In einer Biographie mit dem Titel "Hitlers Klavierspieler" zeichnet der Mitherausgeber der "Sunday Times" das Charakterbild eines schwer zu fassenden Mannes. Denn Hanfstaengl liebte das Klavierspiel ebenso wie er Hitler bewunderte. Bis er sich rechtzeitig und lange vor dem Ende des so genannten "Dritten Reiches" auf die andere Seite schlug, um fortan für die USA zu arbeiten. Wie ist eine solcher Lebensweg zu erklären? Antworten darauf in der Rezension von Sabine Weber.

Moderation: Jasper Barenberg | 05.11.2007
    Im November 1922 kommt es im Münchner Kindlkeller zu einer folgenschweren Begegnung zwischen einem Deutsch-Amerikaner und einem Österreicher. Der eine, Ernst Hanfstaengl, ist Mitte 30 und mit einem Meter neunzig eine imposante Erscheinung. Er strahlt charmante Weltläufigkeit aus, seine Manieren sind perfekt. Der andere ist Adolf Hitler.

    Schon die ersten Sätze Hitlers schlugen Hanfstaengl in Bann: welche Sprachgewalt, welche Suggestivkraft! Er hatte in seinem Leben schon etliche große Redner erlebt, zum Beispiel Präsident Theodore Roosevelt. Doch keiner von ihnen verfügte über eine derart unglaubliche Palette rhetorischer Tricks wie Hitler. Jahre später sollte sich Hanfstaengl häufig fragen: Wie hatte er nur einem solchen Mann auf den Leim gehen können?
    Diese Frage bewegt nicht nur Ernst Hanfstaengl, sondern auch seinen englischen Biographen Peter Conradi. Um sie zu klären, zieht der Autor unzählige Quellen heran, darunter Hanfstaengls Memoiren, diverse Zeitungsartikel, Briefe, CIA-Akten sowie die Erzählungen von Hanfstaengls Sohn Egon. Entstanden ist das Psychogramm eines am ehesten wohl exzentrisch zu nennenden Menschen, dessen Lebensweg immer neue Volten für ihn bereithielt. Bevor Hanfstaengl die Bekanntschaft Hitlers machte, standen bei ihm alle Zeichen auf "Weltbürger": Geboren 1887 in München als Kind deutsch-amerikanischer Eltern ging er 1905 zum Harvard-Studium in die USA; über einen Kommilitonen lernte er sowohl Präsident Theodore als auch den späteren Präsidenten Franklin D. kennen. 1921 kehrt er mit Frau und Sohn in sein geliebtes Deutschland zurück - und ist erschüttert über die herrschenden schlechten Verhältnisse. Hitlers Rede im Kindlkeller, die genau diese Erschütterung anspricht und Wege aus der Misere aufzuzeigen scheint, ist für Hanfstaengl wie eine Offenbarung - und der Beginn einer vierzehn Jahre währenden Freundschaft. Hanfstaengl glaubt an Hitlers politisches Potential und will ihm seinen Stempel aufdrücken. Hitler wiederum nutzt die Gelegenheit, sich durch den weltläufigen Hanfstaengl in die wohlhabende Münchner Gesellschaft einführen zu lassen und hier finanzielle Förderer zu finden. Und dann ist da noch die Sache mit der Musik. Eines Tages spielt Hanfstaengl - den Conradi fast durchgängig bei seinem Kinderspitznamen "Putzi" nennt - Hitler auf dem Klavier vor.
    Hitler marschierte in höchster Erregung im Zimmer auf und ab und schlug mit den Händen den Takt. Als Putzi geendet hatte, blieb Hitler wie angewurzelt stehen und starrte mit leeren Augen in den Raum. "Sie müssen oft für mich spielen", stieß er hervor. "Nichts bringt mich so in Stimmung, bevor ich vor das Publikum treten muss. Andere, die Putzi am Klavier erlebten, staunten eher über die Gewalt und schiere Lautstärke seines Spiels denn über Virtuosität.
    Seine Karriere als "Hofmusiker" baut Hanfstaengl aus: Er komponiert diverse Märsche wie "Jugend marschiert" - den er in dieser Aufnahme selbst dirigiert. Und zu einer anderen seiner Kompositionen, "Junge Helden", ziehen am 30. Januar 1933 25.000 uniformierte Gefolgsleute Hitlers mit Fackeln durchs Brandenburger Tor. 1931 ernennt Hitler seinen Vertrauten zum Auslandspressechef; im selben Jahr tritt Hanfstaengl in die NSDAP ein. In einer seiner seltenen Stellungnahmen fasst Conradi zusammen:
    Als Auslandspressechef der Nazis trug Putzi zweifellos moralische Mitverantwortung für die Verbrechen des Regimes. Es besteht auch kein Zweifel, dass er Antisemit war und im Nationalsozialismus die einzige Rettung für sein Land sah. Vieles jedoch fand seine strikte Missbilligung. Manchmal sagte oder unternahm er nichts; dann wieder protestierte er offen gegen Übergriffe.
    Die Freundschaft zwischen Hitler und Hanfstaengl leidet zusehends darunter. Ein Übriges tut das schlechte Verhältnis zu Joseph Goebbels. Als Hanfstaengl 1937 unerwartet ins bürgerkriegsgeschüttelte Spanien geschickt werden soll, angeblich, um dort Journalisten zu betreuen, versteht er dies als sein Todesurteil und setzt sich mit seinem Sohn über die Schweiz nach England ab. Unterdessen wird sein Pressebüro in Berlin aufgelöst und er selbst zur Unperson erklärt, der bei Rückkehr zu verhaften sei. Dennoch hofft Hanfstaengl die folgenden eineinhalb Jahre naiverweise auf eine Entschuldigung Hitlers sowie eine Garantie, ehrenhaft nach Deutschland zurückkehren zu können. Schließlich lässt er diese Hoffnung fahren und schickt seinen mittlerweile 17-jährigen Sohn in die USA. Mit Kriegsausbruch kommt er selbst als unerwünschter Ausländer in ein Haftlager, 1941 wird er nach Kanada verlegt. Sein Sohn Egon wendet sich 1942 in einer deutschsprachigen Sendung der "Stimme Amerikas" an seine alte Heimat:

    "Deutsche. Mein Name ist Hanfstaengl. Wer in den Jahren von 1932 bis 1937 brav seine Zeitung gelesen hat, der wird sich bestimmt meines Vaters Ernst Hanfstaengl entsinnen. Denn mein Vater stand einstmals mit Adolf Hitler engstens verbunden. Ich selbst war noch vor kurzen Jahren Gefolgschaftsführer in der Hitler-Jugend. Heute bin ich ein Soldat in der Armee der Vereinigten Staaten. Und als amerikanischer Bürger und Soldat habe ich allen Grund in der Welt, glücklich und stolz zu sein."
    Im selben Jahr erhält Hanfstaengl Besuch eines außenpolitischen Beraters Franklin D. Roosevelts, den er noch von seiner Tätigkeit als Auslandspressechef kennt. Fortan steht Hanfstaengl im Dienst des amerikanischen Präsidenten.

    Ausgerüstet mit einem leistungsstarken Kurzwellenempfänger analysierte er die Nachrichten aus Berlin vor dem Hintergrund seines persönlichen Wissens über Hitler und sein Umfeld. Er suchte nach Schwachstellen und machte Vorschläge für Gegenangriffe. Diese Analysen verblüfften mit ihrer schieren Fülle an persönlicher Information, doch welchen praktischen Nutzen sie für die Amerikaner gehabt haben mögen, ist nicht leicht zu beurteilen. Zudem erwiesen sich viele von Putzis Prophezeiungen als falsch. Sie waren Ausdruck sowohl seines brennenden Hasses gegen die Russen als auch seines Wunsches, das Naziregime stürzen zu sehen.
    Nach insgesamt sieben Jahren Lagerhaft wird Hanfstaengl 1946 nach Deutschland entlassen. In einer Verhandlung drei Jahre später spricht man ihn von aller Verantwortung am Nazi-Regime frei - seine Tätigkeit für die USA hat sich für ihn positiv ausgewirkt. In "Hitlers Klavierspieler" verlässt sich Peter Conradi ganz auf seine Quellen und hält sich mit eigenen Analysen zurück. Gerade diese wären aber wünschenswert gewesen, um vor allem die häufigen Zitate aus Hanfstaengls naturgemäß subjektiv gefärbten Memoiren zurechtzurücken. Als unglücklich erweist sich auch Conradis Entscheidung, Hanfstaengl durchgehend "Putzi" zu nennen. Der harmlose Spitzname steht in seltsamem Gegensatz zu dem zeitweilig cholerischen Hünen Hanfstaengl, mehr noch aber zu seiner Position im nationalsozialistischen Deutschland. Dennoch: eine in weiten Teilen lesenswerte Biographie über einen hochintelligenten Menschen, der voller Selbstüberschätzung hoffte, erfolgreich am großen Rad der Geschichte drehen zu können - und der, als ihm dies gründlich misslang, trotzdem wieder auf die Füße zu fallen wusste.

    Hitlers Klavierspieler heißt die Biographie von Peter Conradi über Ernst Hanfstaengl: Vertrauter Hitlers, Verbündeter Roosevelts im Untertitel. Aus dem Englischen übersetzt von Gabriele Herbst. Das Buch ist im Scherz Verlag erschienen, 448 Seiten kosten Euro 19,90. Sabine Weber war unsere Rezensentin.