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Pyschologie
Die Komplexität der Gefühle

Werden Gefühle kulturell erworben oder sind sie Ausdruck biologischer Phänomene? Vielleicht liegt die Wahrheit auch in der Mitte: Neueren Hirnstudien zufolge beruhen Basis-Emotionen auf biologischen Vorgängen, komplexere Emotionen sind kulturell beeinflusst.

Von Martin Hubert | 05.02.2014
    Wut, Freude, Trauer, Neugier, Schuld oder Scham. Das Reich der Gefühle ist riesengroß und nicht allein zwischen Wut und Zorn liegt nur eine schmale Grenze. Emotionsforscher beschäftigt daher seit Langem die Frage, wie aus dem Verhalten eines Menschen speziell das eine oder andere Gefühl entstehen kann. Hat jemand einen Wutausbruch, dann spürt man das leibhaftig. Seine Stimme überschlägt sich, der ganz Körper bebt. Offenbar, schließen daraus Wissenschaftler wie die Psychologin Kristen Lindquist von der University of North Carolina, liegen jedem Gefühl zunächst einmal bestimmte körperliche Vorgänge zugrunde:
    "Ein Bestandteil von Gefühlen ist der sogenannte Kernaffekt. Darunter versteht man die Fähigkeit, den eigenen Körperzustand zu repräsentieren. Man spürt dann, wie gut oder schlecht man sich gerade fühlt, ob man hoch erregt oder antriebslos ist, ob das Herz schneller oder langsamer schlägt und so weiter und so fort."
    Selbstbewertung der Körperzustände
    Gut oder schlecht. Ein positiver und ein negativer Pol bilden sozusagen das Grundgerüst, an dem sich die körperlichen Kernaffekte orientieren. Es muss noch etwas dazukommen, damit sich sozusagen dazwischen der ganze Reichtum der Gefühlswelt entfalten kann. Viele Forscher sind davon überzeugt, dass das die Selbstbewertung der Körperzustände ist. Der Mensch interpretiere diese immer innerhalb der Situation, in der sie auftreten. Wie diese Bewertung genau stattfindet, ist aber noch relativ unklar. Kristen Lindquist geht der Hypothese nach, dass dabei im Gehirn ein sogenanntes Konzeptualisierungsnetzwerk die entscheidende Rolle spielt.
    "Konzeptualisierung heißt: Es wird Wissen in Form von Begriffen und Deutungsmustern aus dem Gedächtnis abgerufen, um Sinnesreizen Bedeutung zu geben. Konzeptualisierung findet ja bereits statt, wenn wir Sehreizen eine Bedeutung verleihen. Wenn zum Beispiel Licht einer bestimmten Wellenlänge auf unsere Netzhaut trifft, dann nutzt das Gehirn bereits so etwas wie Konzepte, um dem eine Farbe zuzuweisen. Wir glauben, dass Ähnliches passiert, wenn wir die andauernden Veränderungen unserer Körperzustände mit einer bestimmten emotionalen Bedeutung versehen: Ist es Ärger, Ekel, Furcht oder einfach nur Hunger?"
    Kristen Lindquist bekam die Gelegenheit, diese Thesen an drei Patienten mit einer seltenen Gehirnstörung zu überprüfen. Bei ihnen war exakt das Hirnnetzwerk ausgefallen, das aktuelle Situationen mithilfe von Begriffen und Konzepten interpretiert. Lindquist verglich diese Patienten mit 44 gesunden Menschen:
    "Wir zeigten den Versuchspersonen Gesichtsausdrücke von Menschen: Mal lächelten sie, mal zogen sie ihre Augenbrauen zusammen, mal rümpften sie die Nase, als ob sie etwas Übles riechen würden. Wir zeigten ihnen aber auch neutrale Gesichter."
    Die Versuchspersonen sollten diese Bilder einfach in bedeutungsvolle Stapel aufteilen, ohne dass ihnen die Forscher irgendwelche Vorgaben machten. Das Ergebnis, sagt Lindquist:
    "Die gesunden Versuchspersonen teilten die Gesichter in verschieden Stapel auf: Alle fröhlichen Gesichter, alle traurigen, alle wütenden und alle, die Ekel ausdrückten, kamen jeweils in einen Stapel und so weiter. Die Patienten aber konnten das nicht. Sie produzierten nur drei Stapel: einen für positive Gesichter, einen für negative wie Trauer, Ärger und Ekel und einen für neutrale Gesichter. Da diese Patienten nicht auf Wissenskonzepte, Begriffe und Bewertungsmaßstäbe zurückgreifen konnten, nahmen sie die Gesichter rein affektiv wahr. Sie sahen also nur ganz elementare und generelle Affektmuster positiver, negativer oder neutraler Qualität."
    Emotionen aus einfachen Affektmustern
    Wenn das Gehirn nicht mehr fähig ist, Gesichtsausdrücke im Rückgriff auf Wissenbestände zu interpretieren, fällt der Mensch also auf fundamentale Affekte zurück: positiv oder negativ. Kristen Lindquists Arbeit ist nur eine kleine Fallstudie. Aber das Ergebnis passt überzeugend zu ihrer Hypothese, dass sich komplexere Emotionen mithilfe von Konzepten aus einfachen Affektmustern bilden. Es wirft auch ein erhellendes Licht auf eine uralte Kontroverse. Humanwissenschaftler tendieren dazu, Emotionen als kulturelles Produkt zu sehen. Naturwissenschaftler verstehen sie eher als biologisches Phänomen, das in allen Gesellschaften gleichartig funktioniert. Die Studie von Kristen Lindquist stützt nun diejenigen, die eine vermittelnde Position vertreten: Demnach haben Emotionen etwas universelles, weil sie auf biologischen Vorgängen beruhen. Je komplexer sie sind, desto stärker wirkt aber der kulturelle Einfluss. Denn dann greifen die Konzepte, die sozialen Normen und Werten unterliegen. Japanische Kinder werden zum Beispiel von früh an dazu erzogen, ihren Ärger zu unterdrücken. Kristen Lindquist fasst zusammen:
    "Alle Menschen haben Kernaffekte, sie erleben positive oder negative Körperveränderungen - aber wie sie diese Emotionen deuten, hängt immer auch von ihrer Kultur ab."