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Quote für Flüchtlinge
"EU-Mitgliedsstaaten verhalten sich überwiegend egoistisch"

Der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff hat Gegnern einer neuen Verteilung von Flüchtlingen in Europa Egoismus und Kleinstaatlichkeit vorgeworfen. Notfalls müssten sich die willigen EU-Mitgliedsländer zunächst auf eine informelle Quote einigen, sagte er im DLF.

Alexander Graf Lambsdorff im Gespräch mit Jasper Barenberg | 28.05.2015
    Der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff
    Der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff (imago stock & people)
    In der Diskussion über die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU hat der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff eine Alternativlösung ins Gespräch gebracht. Sollte das Quotensystem der EU-Kommission am Widerstand im Europäischen Rat scheitern, könnten bereitwillige Mitgliedsländer einen informellen Verteilungsschlüssel festlegen, sagte Lambsdorff im Deutschlandfunk.
    Zu den Ländern zählte Lambsdorff neben Deutschland unter anderen auch die Niederlande, Belgien und Österreich. Diese Länder sollten "erstmal anfangen" und andere dann hinzuziehen. Lambsdorff, der auch Vizepräsident des Europäischen Parlaments ist, sprach von einem "anschlussfähigen System", mit dem schon einiges gewonnen wäre.
    Die EU-Kommission will in den kommenden beiden Jahren 40.000 Menschen aus Italien und Griechenland in andere EU-Länder umsiedeln. Außerdem sollen weitere 20.000 Flüchtlinge von außerhalb der EU aufgenommen und ebenfalls auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden. Diese Umverteilung wird es aber nur geben, wenn die nötige Mehrheit der EU-Länder zusammenkommt. Großbritannien hat bereits Widerstand angekündigt.

    Das Interview im Wortlaut
    Jasper Barenberg: Und am Telefon ist der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, schönen guten Morgen!
    Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Herr Barenberg!
    Barenberg: Wir haben von dem wachsenden Widerstand, von dem heftigen Widerstand, muss man ja wohl sagen, gehört. Ist das Projekt schon so gut wie gescheitert aus Ihrer Sicht?
    Graf Lambsdorff: Ich bin nicht sicher, ob das Projekt schon gescheitert ist. Die Frage ist: Wird es sich genauso umsetzen lassen, wie das Jean-Claude Juncker, wie das der Kommission vorschwebt? Da wird man seine Zweifel dran haben dürfen angesichts des Widerstandes. Aber das Ganze hat zwei Dimensionen: Das eine ist, wie Herr Münchenberg eben richtig berichtet hat, eine Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik, die ist überfällig, das ist ganz klar: Das Dublin-System funktioniert nicht mehr.
    Das Zweite ist eine europapolitische Diskussion. Nämlich, Jean-Claude Juncker macht ernst, er sagt, bei großen Problemen muss Europa groß sein und sich im Kleinen zurücknehmen. Wir haben mit der Flüchtlingsproblematik ein großes Problem, er macht es völlig richtig, dass er den Ball jetzt in die Mitgliedsstaaten zurückspielt und sagt, das ist eure Linie! Bei großen Dingen groß, bei kleinen Dingen klein, jetzt machen wir hier gemeinsam europäisch eine Problemlösung. Und es ist ganz interessant zu sehen, wie sich die Mitgliedsstaaten verhalten, nämlich überwiegend egoistisch, kleinstaatlich und eben nicht entlang der Linie, die sie selber - gerade David Cameron - immer ausgegeben haben, dass bei großen Problemen man auch gemeinsam die Dinge angehen soll.
    Barenberg: Da stellen sich die europäischen Partner kein gutes Zeugnis selber aus!
    Graf Lambsdorff: Sie haben völlig recht, genauso ist es. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind hier gefordert. Sie kontrollieren den Zugang auf ihr Territorium. Interessanterweise beruft sich Herr Juncker auf einen Artikel, der bereits im Vertrag steht. Es handelt sich hier also nicht um eine Weiterentwicklung des Rechts, sondern nur um die Anwendung des Rechts. Trotzdem, trotzdem hört man eben aus Großbritannien und aus anderen Ländern, bis vor Kurzem auch aus der Großen Koalition in Berlin, nein, das wollen wir nicht! Ich glaube aber, dass diese Diskussion geführt werden muss. Wer nicht will, dass sich Europa um Duschköpfe und Bogenkrümmungen kümmert, der muss dann schon zulassen, dass bei den großen Problemen Ländern wie Italien, Griechenland und Malta geholfen wird, im Geiste europäischer Solidarität.
    "Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind hier gefordert"
    Barenberg: Sie haben es selbst angesprochen: Jetzt so einen Notfallplan zu erstellen und umzusetzen wäre so etwas, gleichzeitig wie eine Neuausrichtung der ganzen, der gesamten Flüchtlingspolitik. Und es zeigt sich: Gerade in diesem Punkt wie schon seit vielen, vielen Jahren gibt es keine Mehrheit für eine andere Flüchtlingspolitik, für eine bessere Lastenverteilung in Europa.
    Graf Lambsdorff: Ja, die Mehrheit muss erst konstruiert werden, sie muss erst gebaut werden. Wenn aber in der Tat Polen, England, andere große Mitgliedsstaaten sich im Rat sperren, dann ist es natürlich kompliziert mit der qualifizierten Mehrheit. Spanien ist noch offen, Frankreich ist zwar skeptisch, aber nicht ganz ablehnend, glücklicherweise ist Deutschland dafür. Also, jetzt schauen wir mal, was sich da ergibt, auch bei den Positionen der kleineren Länder. Aber wenn der Rat hier versagt, dann tritt das ein, was wir im Europäischen Parlament seit vielen Jahren beobachten, nämlich dass bei den Problemen, bei denen Europa wirklich gefordert ist, Europa nicht scheitert an der Kommission oder am Europäischen Parlament, sondern am Egoismus der Mitgliedsstaaten.
    Italien und Griechenland nicht mit den Problemen im Stich lassen
    Barenberg: Sie haben gesagt, die Pläne müssen ja nicht eins zu eins umgesetzt werden. Wo sehen Sie denn aus Ihrer Perspektive noch Nachbesserungsbedarf?
    Graf Lambsdorff: Ich glaube zum Beispiel, dass, wenn es so sein sollte, dass sich bestimmte Länder wirklich weigern und die qualifizierte Mehrheit nicht zustande kommt, man überlegen muss, Italien und Griechenland dadurch zu helfen, dass die Länder, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, sich zusammentun und ein System untereinander entwickeln, mit dem man quasi eine informelle Quote festlegt. Zurzeit ist es ja so, nehmen wir mal Deutschland und Schweden, die haben in den letzten Jahren ungefähr 43 Prozent aller Flüchtlinge aufgenommen. Das heißt, beide Länder, wir, auch die Schweden haben ein Interesse daran, dass man das gemeinsam, solidarisch besser löst. Die Niederländer, die Belgier, die Österreicher, andere könnte man mit ins Boot holen, um dann ein solches System erst einmal anzufangen und dann andere Länder hinzuzufügen, wenn die dazu bereit sind, wenn die sich überzeugen lassen, dass das aktuelle System, nämlich das, dass man Italien und Griechenland einfach hängenlässt, keines ist, das auf Dauer funktionieren kann.
    Barenberg: Was wäre denn gewonnen, wenn die, die ohnehin schon viele Flüchtlinge aufnehmen, jetzt noch mehr aufnehmen und die außen vor bleiben, die bisher diese Lasten nicht mittragen? Was würde das über Europa aussagen?
    Graf Lambsdorff: Na ja, Herr Barenberg, wir würden ein im Moment völlig ungeordnetes System überführen in ein zumindest in Teilen auf einem Verteilungsschlüssel beruhendes, geordnetes System, wie wir in Europa mit Flüchtlingen umgehen. Ein solches System ist dann anschlussfähig, ist ausbaufähig. Wenn es der Kommission jetzt im Moment noch nicht gelingt, eine Mehrheit im Rat zu bekommen - das heißt, man kann das Ganze formell noch nicht beschließen -, baut man aber so wenigstens ein anschlussfähiges System, ähnlich wie wir das mit Schengen gemacht haben, ähnlich wie wir das mit dem Euro gemacht haben, dass Länder, die bereit sind, zusammenzuarbeiten, Länder, die dem europäischen Gedanken hier aufgeschlossen sind gegenüber, dass die sozusagen ein anschlussfähiges System bauen. Das wäre gewonnen.
    "Flüchtlinge haben einen Anspruch auf Schutz"
    Barenberg: Es gibt ja auch Kritik von ganz anderer Seite, von Flüchtlingsorganisationen beispielsweise, die argumentieren: Man kann kein System implementieren, einsetzen, mit dem Flüchtlinge wie Stückgut in der EU hin- und hergeschoben werden. Haben Sie dafür Verständnis?
    Graf Lambsdorff: Nein, ehrlich gesagt nicht. Wir tun doch in Deutschland genau das Gleiche. Wir haben den Königsteiner Schlüssel, das heißt, Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, haben auch nicht die freie Wahl, wo sie hinkommen, ob das nun Thüringen ist oder Bayern, Mecklenburg oder Nordrhein-Westfalen. Da gibt es einen Verteilungsschlüssel. Ich glaube, die Flüchtlinge haben einen Anspruch auf Schutz, auf Unterkunft, auf Ernährung, aber sie haben keinen Anspruch darauf, sich aussuchen zu können, wo es in Europa hingeht. Wenn das Grundbedürfnis nach der Konvention, nach der Flüchtlingskonvention, wenn die Grundbedürfnisse erfüllt sind, dann ist es völlig legitim, denke ich, auch für die Europäer zu sagen, so viele gehen nach Deutschland, so viele gehen nach Polen und so viele gehen nach Frankreich.
    Barenberg: Sie können sich das also vorstellen: Syrische Flüchtlinge, ich sage jetzt mal, in Ungarn?
    Graf Lambsdorff: Natürlich kann ich mir das vorstellen! Das gilt für alle Mitgliedsländer der Europäischen Union. Einige Länder haben damit größere Probleme, aber wenn Sie sich die Kriterien anschauen, die die Europäische Kommission anlegt, dann wird das ja schon berücksichtigt. Also, ein Land wie Ungarn, aber auch Länder wie Bulgarien oder Lettland müssten ja wirklich sehr niedrige Zahlen aufnehmen. Im Übrigen ist es so, dass wir zurzeit über 60.000 Menschen reden, das ist im Vergleich zu den 500 Millionen Menschen, die in Europa leben, wirklich eine überschaubare Menge. Was die Kommission hier tut, ist der Versuch, erst einmal mit kleinen Schritten in Richtung dieses System voranzubringen, und ich glaube, dass das auch der richtige Weg ist.
    Themen Wirtschaftsmigration und Syrien-Füchtlinge nicht vermischen
    Barenberg: Was dieser Versuch ausschließt, sind all die Menschen, die nicht als schutzbedürftig gelten, sondern die "nur" vor dem Elend fliehen, "nur" in Anführungszeichen. Was ist mit diesen Menschen, hilft da nur Abschottung?
    Graf Lambsdorff: Na ja, das ist das, was bei uns in den Städten und Landkreisen ja zurzeit die Realität ist. Wir haben zurzeit einen Ansturm aus dem Kosovo, wir haben einen Ansturm aus Teilen Serbiens, aus anderen Ländern des Westbalkans. Hier gilt nach wie vor, dass die Politik jeweils national entscheiden kann, ob man diesen Menschen Unterkunft auf Dauer gewährt oder nicht.
    In Deutschland ist die Anerkennungsquote beispielsweise für Flüchtlinge aus dem Kosovo oder für Migranten aus dem Kosovo bei unter einem Prozent, da finden auch Rückführungen statt. Ich glaube, wir sollten hier nicht alles miteinander vermischen. Wir reden hier über einen Vorschlag der Kommission, wo es um Syrer geht, wo es um Eritreer geht, wo es um eine ganz kleine Zahl von Menschen geht, bei denen die Anerkennungsquote über 75 Prozent liegt, wo also deren Schutzbedürfnis ohne Zweifel gegeben ist. Und ich glaube, dass dieser Ansatz richtig ist. Was die anderen Fragen angeht, die Wirtschaftsmigration, glaube ich, wäre es zu früh und wahrscheinlich sogar im Moment noch unmöglich, das gemeinsam europäisch zu lösen.
    Barenberg: Der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff live hier im Deutschlandfunk. Danke schön für das Gespräch!
    Graf Lambsdorff: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.