Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Rabenmutter mit dunkler Vergangeheit

Eine grausam übermächtige Mutter, die ihre Kinder nicht beschützt, sondern manipuliert, quält oder sogar vernichtet, gilt eigentlich als von der Natur nicht vorgesehen. Und gehört genau darum zu den rätselhaftesten und faszinierendsten Gestalten der Literaturgeschichte. In Michel Houellebecqs Skandalroman "Elementarteilchen" war es eine egoistische Hippie-Rabenmutter, die ihre Zwillingssöhne Bruno und Michel zu Lebenskrüppeln machte.

Von Gisa Funck | 15.04.2009
    In Elfriede Jelineks "Die Klavierspielerin" trieb eine überfordernde Mutter die Tochter in den Selbsthass einer gescheiterten Pianistenkarriere. Und auch der Selbstmordversuch von Silvia Plaths Heldin aus "Die Glasglocke" war nicht zuletzt das Ergebnis einer ungut konkurrierenden Mutter-Beziehung. Die zentrale Gestalt in Maria Barbals Roman "Inneres Land" könnte man nun ebenfalls in diese wenig schmeichelhafte Ahnenreihe einordnen. Denn Rita, die zirka fünfzigjährige Ich-Erzählerin, führt in diesem Roman ein letztes, bitteres Zwiegespräch mit ihrer Mutter Teresa, von der sie sich nicht ohne Grund zeitlebens ungeliebt gefühlt hat. Hatte die Mutter für die Tochter doch von klein auf fast nur Häme, Verachtung und Schimpfwörter parat:

    Du nennst mich eine Mäkeltante, eine Heulsuse, einen Drückeberger, ein Plappermaul, eine Herumtreiberin, eine Struwwel-Liese oder einen Mopp, sogar Scheusal sagst du zu mir und Ungeheuer. Ich bin jetzt sieben Jahre alt, und mit Scheusal, Ungeheuer oder Biest werden alle meine Fehler auf einmal zusammengefasst. Damit ist jemand gemeint, der ebenso bösartig wie hässlich ist. Oder jedenfalls so ähnlich. Ein Scheusal ist ein verachtenswertes Wesen, dem man nicht trauen kann, das einem lästig ist, eine Person, die nicht wert ist, geliebt zu werden.
    Schon die vertrauliche Du-Anrede zeigt, dass "Inneres Land" weniger ein Roman als ein überlanger Brief der Tochter an die Mutter ist, in dem Rita noch einmal ihr Leben rekapituliert - und dabei jenem Mangel auf die Schliche zu kommen versucht, der ihr Aufwachsen so schmerzhaft überschattet hat: dem Mangel an mütterlicher Liebe und Fürsorge. Im dreiteiligen Rückblick auf ihre Kindheit, ihr Studium und ihre eigene Heirat und Mutterschaft stößt Rita schließlich auf ein Lebenstrauma ihrer Mutter, in dem sich nichts Geringeres als das Trauma einer ganzen Nation widerspiegelt: das Trauma des bis heute in Spanien kaum aufgearbeiteten Franco-Faschismus.

    Wie schon in Barbals berühmtestem Roman "Wie ein Stein im Geröll" aus dem Jahr 1985 nutzt die katalanische Schriftstellerin auch diesmal in "Inneres Land" ein tragisches Frauenschicksal, um beispielhaft zu zeigen, wie unverheilt die Wunden des spanischen Bürgerkriegs immer noch sind. Und wie sehr die lange totgeschwiegenen Gräuel des Franco-Regimes nachfolgende Generationen bis heute belasten.

    Denn ähnlich wie schon die 80-jährige Conxa aus "Wie ein Stein im Geröll" kann auch Ritas Mutter Teresa einfach nicht verwinden, was Francos Schergen ihr und ihrer Familie einst angetan haben. Reden aber kann sie nicht darüber mit ihren beiden Kindern Rita und Ramon. Und so kostet es die Tochter in Barbals Roman viel Mühe und Zeit, bis sie nach Jahrzehnten und mehr als dreihundertfünfzig Seiten schließlich mithilfe eines Nachbarsohns herausfindet, dass der Vater ihrer Mutter - also Ritas Großvater - 1938 denunziert und von den Faschisten ermordet wurde. Ein willkürlicher Racheakt für einen republikanischen Anschlag. Es hätte auch einen anderen unschuldigen Zivilisten treffen können. Doch für Ritas Mutter wurde der Mord an ihrem Vater und die öffentliche Ächtung ihrer Familie zur unvergesslichen Schmach, die sie innerlich verbittern ließ. Seitdem hat die Mutter jede Zuversicht verloren und mäkelt ständig an allem herum, ohne jedoch über ihren wahren Schmerz sprechen zu können. Und das wiederum - das mütterliche Schweigen über die Vergangenheit - macht die wiederkehrenden Beleidigungen, Heulkrämpfe und verächtlichen Sprüche der Mutter für ihre Kinder umso unverständlicher, ungerechter und boshafter:

    Eines Nachmittags, ich will später noch weggehen, wir sind beide allein in der Wohnung. Du bügelst und ich erzähle dir von den Mädchen aus meiner Klasse. Einige sind immer richtig schick angezogen, höflich und zuvorkommend, echte Freundinnen. Du sagst mir, du fändest es schön, dass ich mit solchen Menschen verkehre, aber ich solle ja keinem trauen. Ich frage dich, warum nicht, du wirst laut und mit erhobenem Bügeleisen entgegnest du mir, ob ich denn immer noch nicht kapiert hätte, dass es Leute gibt, die nur darauf aus sind, uns zu schaden. "Freundinnen!", sagst du. "Wenn ich das schon höre, jeder für sich und Gott für uns alle, so läuft das auf dieser Welt!"

    Mit der Figur der seelisch gebrochenen Mutter, deren Welthass selbst vor den eigenen Kindern nicht Halt macht, präsentiert Barbal in "Inneres Land" eine, in ihrer Empathie-Unfähigkeit beängstigende Symbolgestalt der spanischen Bürgerkriegsgeneration. Wie kann man als Tochter mit einer derart verletzten und ständig neu verletzenden Mutter überhaupt zu Recht kommen, ohne nicht selbst psychisch Schaden zu nehmen? So lautet Ritas Grundfrage im Roman, die sie stellvertretend für die 50er-Jahre-Nachkriegsgeneration stellt, der auch ihre Schöpferin angehört. Rita spielt mehrere Antwort-Alternativen durch. Sie flüchtet sich vor der Mutter ins Lernen und in eine Uni-Karriere. Sie schließt sich den revoltierenden Studenten an. Sie flieht vor der Polizei und geht eine überstürzte Ehe ein. Und findet doch erst Frieden mit ihrer Mutter, als sie endlich beginnt, nach zu recherchieren, was 1938 genau mit ihrer Familie geschehen ist.

    Aufarbeitung der Vergangenheit als einziger möglicher Weg zur Generationen-Aussöhnung: "Inneres Land" erzählt eine Emanzipationsgeschichte mit missionarischem Unterton. Und manchmal liest sich das - vor allem am Anfang, wenn aus Sicht der kleinen Rita erzählt wird - bei aller löblichen Absicht etwas arg ausschweifend. Auch schrammen nicht alle Episoden immer ganz an der Schmonzette vorbei. Etwa dort, wo Rita strahlende Erfolge als Lehrerin feiert oder sich in den sie bei ihren Nachforschungen unterstützenden Nachbarssohn verliebt. Dennoch liest sich Barbals 400-Seiten-Roman bis zum Schluss spannend. Was nicht nur an seiner ungewöhnlichen Anspracheform liegt, sondern vor allem an jener tragischen Ambivalenz, die das Gefühl der Hassliebe kennzeichnet. Denn so wenig, wie sich eine vernachlässigte Tochter jemals ganz von ihrer ungeliebten Mutter lossagen kann, ohne einen Identitätsverlust zu erleiden - so wenig kann sich eine Nation auf Dauer einer ungeliebten Vergangenheit entledigen: egal, wie schrecklich und düster die auch immer war.

    Maria Barbal: "Inneres Land". Roman, Aus dem Katalanischen übersetzt von Heike Nottebaum. Transit-Verlag, Berlin 2008, 398 Seiten, 22.80 Euro.