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Rache im Gerichtssaal

Kaum eine andere Straftat hat die deutsche Öffentlichkeit so sehr bewegt, kaum ein anderes Verbrechen hat einen solch maßlosen Medienrummel in Gang gesetzt. Die Verwicklungen von Realität und Fiktion, von Wirklichkeit und Kintopp waren kaum mehr zu entflechten. Am 6. März 1981, heute vor 25 Jahren, erschoss Marianne Bachmeier mitten im Gerichtssaal den Mörder ihrer Tochter.

Von Monika Köpcke | 06.03.2006
    "Die Mutter kam mit mir rein und guckte zur Anklagebank und sagte: 'Ach, ist ja noch alles leer’, das war also eine ganz normale Reaktion. Und wir gingen dann noch mal raus. Und als dann wieder der Saal geöffnet wurde und offensichtlich die Anklagebank nicht mehr leer war, ging sie als erste wieder rein, zog eine Pistole und hat das ganze Magazin leergeschossen. Dann kam sie wieder aus dem Saal raus, warf die Pistole auf den Boden und ließ sich sofort abführen."

    Die Tat, die diese Augenzeugin schildert, trifft ein Nervenzentrum im Staatsgefüge der Bundesrepublik. Am 6. März 1981 erschießt Marianne Bachmeier im Schwurgerichtssaal des Lübecker Landgerichts den Mörder ihrer siebenjährigen Tochter Anna. Der 35-jährige Schlachter Klaus Grabowski hatte gestanden, das Mädchen sexuell missbraucht und erdrosselt zu haben. Die Schüsse der Mutter treffen die Justiz, das staatliche Instrument gegen die Privatsühne, dort, wo sie besonders empfindlich ist: am Ort der Rechtssprechung.

    "Ich finde es einen sehr großen Unterschied, ob ich ein kleines Mädchen umbringe, weil ich Angst habe, ich muss danach ins Gefängnis für mein Leben lang. Und dann auch das 'Wie’, also dass ich mich hinter das Mädchen stelle und zuziehe, das ist jetzt wörtlich aus seiner Aussage: 'Ich höre, dass etwas aus ihrer Nase tritt, dann ziehe ich fester zu, dann kann ich den Anblick der Leiche nicht mehr ab’."

    Marianne Bachmeier 1994, 13 Jahre nach ihrer Tat, in einem Rundfunkinterview.

    "Und das 'Wie’ bei mir war ein bisschen anders. Ich bin also da reingegangen, ich hab diesen Rücken gesehen, ich hab projiziert vor seinem Rücken praktisch noch mal Anna gesehen, also das war eine Übertragung aus seinem 'ich zog etwas fester zu’, das spielte sich in dem Moment noch mal vor meinen Augen ab, und da hab ich geschossen. Ich glaube, das ist ein kleiner Unterschied."

    Das sehen auch viele Bundesbürger so. Innerhalb einer Woche nach der Tat spenden sie 100.000 Mark auf das Konto eines Unterstützungsvereins für Marianne Bachmeier. Waschkörbeweise erhält sie Briefe und Blumen ins Untersuchungsgefängnis. Ihre tödlichen Schüsse haben das Rachebedürfnis der Öffentlichkeit wachgerufen und befriedigt, das immer dann besonders laut und schrill wird, wenn es um Sexualvergehen an Kindern geht.

    Im Lübecker Schwurgerichtssaal hat eine Frau Selbstjustiz geübt und die Todesstrafe vollstreckt und mit dieser Tat "männlicher" gehandelt als die "weiche", die "verweichlichte" Justiz. Der "Spiegel" schreibt:

    "Marianne Bachmeier hat mit ihrer Tat ein ganzes Bündel von offenen und verdrängten Hass- und Angstgefühlen im allgemeinen Bewusstsein und kollektiven Unbewussten getroffen. Die sechs tödlichen Schüsse mitten im Gerichtssaal – mögen sie auch der ohnmächtigste Ausdruck der bewusstlosesten Verzweiflung gewesen sein – so waren sie doch zur selben Zeit eine 'Szene' von unüberbietbarer Theatralik. Der Fluch der Tat war von Anfang an auch die ihr innewohnende Publicity."

    Und wer eignete sich besser für eine schonungslose Vermarktung als Marianne Bachmeier. Sie war groß, schön, schlank, dunkel, fast eine magische Figur, die sich gut auf den Titelseiten der Presse jeglicher Couleur machte. Der Stern widmete ihr eine ganze Serie, zwei Kinofilme brachten den Fall Bachmeier auf die große Leinwand.

    Doch das öffentliche Wunschbild der Rache-Mutter hielt dem unbarmherzig neugierigen Blick der Medien nicht lange stand. Schnell wurde eine Marianne Bachmeier sichtbar, die den bürgerlichen Normen von Recht und Ordnung nicht entsprach: das Bild einer Frau aus einer Art Späthippie-Milieu, die ihr Kind zwischen eigener Kneipe und alternativem Leben auf dem Land großzog, und sich nichts aus Trauschein und elterlicher Aufsichtspflicht zu machen schien. Hatte sie doch schon ihre ersten beiden Töchter, die sie bereits mit 16 und 18 Jahren bekommen hatte, zur Adoption freigegeben.

    Für die Öffentlichkeit umgab Marianne Bachmeier bald eine Atmosphäre von sexueller Anrüchigkeit, die so gar nicht zu der Rolle der unschuldigen Rache-Mutter passen wollte. Einer Rolle, die sie allerdings auch nie für sich in Anspruch genommen hatte.
    "Ich kann mir vorstellen, dass ich nicht hätte schießen können, wenn dieser Mensch sich umgedreht hätte und gesagt hätte: 'Ich bitte Sie um Verzeihung, ich weiß gar nicht wie mir das überhaupt passieren konnte.' Ich glaube, dann wäre ich rausgerannt, hätte die Tür hinter mir zugeknallt und das wäre es gewesen. Ich sage nicht, dass mir das unlieb ist, dass es passiert ist, aber ich wollte es nicht unbedingt."

    Das Lübecker Landgericht verurteilte Marianne Bachmeier im März 1983 wegen Totschlags und unerlaubten Waffenbesitzes zu sechs Jahren Gefängnis. Ein "Akt der Selbstjustiz" wurde ihr nicht angelastet. Sie habe vielmehr, so das Gericht, unter außergewöhnlichen Umständen spontan gehandelt. Nach drei Jahren Haft vorzeitig entlassen, wanderte Marianne Bachmeier nach Sizilien aus. 1996 starb sie im Alter von 46 Jahren an Krebs.