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Rachefantasien wegen Bestsellerlektüre

Eine Kritik der aktuellen Spiegel-Bestseller-Liste Belletristik, bei der Frauen, irische Krimis und ein Nazithriller eine Rolle spielen, kommentiert von Denis Scheck.

Von Denis Scheck | 13.07.2012
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk. Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?
    Dieses Gehirn grübelt seit zehn Jahren darüber nach, ob Leser Masochisten sind. Oder warum ist es auch ohne "Shades of Grey" eigentlich eine solche intellektuelle Quälerei, jene Bücher zu lesen, die die meisten Menschen kaufen? Rachefantasien sind jedenfalls das Mindeste, was Bestsellerlektüren auslösen.
    Pulp Fiction: "You will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee.”

    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Belletristik, diesmal mit jener Art von deutscher Prosa, die dafür sorgt, dass Frauen unten bleiben, einer irischen Krimientdeckung, einem dämlichen Nazithriller aus Dänemark, einer klugen Dystopie aus Amerika, einem überraschungslosen Roman aus Venedig - sowie dem Versuch, Brunetti einem Bretonen entgegenzustellen.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen 3,611 Kilogramm auf die Waage: zusammen 4348 Seiten.
    • Platz 10: Dora Heldt: "Bei Hitze ist es wenigstens nicht kalt" (Dtv, 336 Seiten, 14,90 Euro) - unbewältigte Altersängste bringen in ihrem Wertesystem komplett in den Zwängen der Kleinbürgerlichkeit verpolte Frauen an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Ein Beispiel für jene hirnverkleisternde Frauenliteratur, die einen vom Feminismus abfallen lassen kann.
    • Platz 9: Tana French: "Schattenstill" (Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Scherz Verlag, 732 Seiten, 16, 99 Euro)- dieser überraschend intelligente und voltenreiche irische Krimi über den Mord an einer hoch verschuldeten, vierköpfigen, irischen Kleinfamilie lebt vor allem von einem: der Erzählerstimme des eitlen und mehr als fehlbaren Detectives Kennedy. Warum sagt denn niemand in der deutschen Literaturkritik, dass Tana French eine herausragende neue Krimiautorin ist?
    • Platz 8: Jussi Adler-Olsen: "Das Alphabethaus" (Deutsch von Marieke Heimburger und Hannes Thiess, dtv, 592 Seiten, 15,90 Euro) - der erste Roman von Jussi Adler-Olsen ist sein schlechtester. Ein grundalberner Nazithriller mit peinlichen anti-deutsche Klischees in Serie. Niemand wird überraschter sein, dieses maue Machwerk 15 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung auf einer deutschen Bestsellerliste wiederzufinden als sein Autor.
    • Platz 7: Suzanne Collins: "Die Tribute von Panem: Tödliche Spiele" (Deutsch von Sylke Hachmeister und Peter Klöss, Oetinger, 414 Seiten, 17,90 Euro) - der Auftaktband einer spannenden Science-Fiction-Trilogie, die unserem tristen DSDS-Gemeinwesen den Spiegel vorhält wie einstmals George Orwells 1984 den westlichen Demokratien 1948.
    • Platz 6: Suzanne Collins: Die Tribute von Panem: "Gefährliche Liebe" (Deutsch von Sylke Hachmeister und Peter Klöss, Oetinger, 431 Seiten, 17,95 Euro) - vieles an dieser lesenwerten Dystopie – dies ist Band 2 und keineswegs langweilig - wirkt ausgedacht und konstruiert; bittere Realität ist leider die Schilderung einer durch populistische Unterhaltung in den Massenmedien verblödeten Öffentlichkeit.
    • Platz 5: Suzanne Collins: "Die Tribute von Panem: Flammender Zorn" (Deutsch von Sylke Hachmeister und Peter Klöss, Oetinger, 430 Seiten, 17,90 Euro) - Band 3 von Collins Schilderung einer Zukunft, in der verblüffende Ähnlichkeiten zwischen Castingshows und Gladiatorenspielen herausgearbeitet werden. Ein mitreißendes Jugendbuch, das die alte Frage neu stellt, ob Rom durch Barbaren von innen oder außen untergegangen ist.
    • Platz 4: Rachel Joyce: "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" (Deutsch von Maria Andreas. Krüger Verlag, Krüger Verlag, 381 Seiten) - ein Mann wandert tausend Kilometer weit, weil er sich von einer krebskranken Arbeitskollegin verabschieden will. Diese fade Tippelbruder-Prosa haben all jene Menschen verdient, denen Kerkelings Aufzeichnungen vom Jakobsweg zu kurz waren.
    • Platz 3: Donna Leon: "Reiches Erbe" (Deutsch von Wener Schmitz, Diogenes Verlag, 22,90 Euro) - es ist doch immer dasselbe: Da nimmt man sich fest vor, diesmal hartherzig und ungerührt zu bleiben. Und dann hat einen Venedig schon um den Finger gewickelt, während man noch im Wassertaxi sitzt und Ausschau nach dem Campanile hält. Genau so ist es mir mit Leons 20. Brunetti-Krimi Leon ergangen, in dem es um die an einem scheinbar natürlichen Herztod verstorbene Signora Altavilla geht. Ein morbides Vergnügen.
    • Platz 2: Jean-Luc Bannalec: "Bretonische Verhältnisse" (302 Seiten, 14,90 Euro) - wer ist Jean-Luc Bannalec? Man munkelt, ein Kölner verstecke sich hinter diesem Pseudonym. Lukas Podolski? Elke Heidenreich? Harald Schmidt? Eher Willy Millowitsch. Dieser Regionalkrimi liefert wackere Unterhaltung, aber Ermittler und Setting wirken bereits im Debüt so zum Klischee erstarrt ("Trocknen Sie sich erst einmal ab, Monsieur Dupin. Einen café?") wie Brunetti nach seinem 20. Fall.
    • Platz 1: Jonas Jonasson: "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" (Deutsch von Wibke Kuhn, Carl'S Books, 414 Seiten, 14,99 Euro) - eine kurzweiliger historische Nachhilfestunde in Schmökerform mit einem Helden im Mittelpunkt, der an Woody Allens a"Zelig" oder an "Forrest Gumb" erinnert. Strandlektüre.