Radbruch beginnt mit einer ideen- und kulturgeschichtlichen Darstellung und setzt im 17. Jahrhundert ein, das man saeculum mathematicum, ein Jahrhundert der Mathematik, genannt hat. Freilich erfuhr nur eine sehr kleine Elite von den neuen Erkenntnissen. Gleichwohl spielte Mathematik eine zentrale Rolle im Rahmen der Weltorientierung. Sie erlaubte es, so die frühe Neuzeit - Cusanus, Kopernikus und Dürer -, Einsicht in den Bauplan Gottes zu erlangen. In geometrischen Utopien wird diese Erkenntnis sozusagen versilbert. Wichtiger wird der Glaube an die Mathematik in der Didaktik, bei Jungius und Comenius im 17. Jahrhundert. Betont wird das konstruktive Denken, zu dem die mathematischen Fächer anregen. Recht unterhaltsam eilt der Verfasser zunächst mit Siebenmeilenstiefeln durch die Kulturgeschichte und erzählt von "Mathematischen Erquickstunden" aus dem Barockzeitalter, von der "abgemessenen" Schönheit der Aufklärungspoetik und der Ineinssetzung von Magie und Mathematik in der Frühromantik. Die Argumentation scheint auf Novalis zuzulaufen, auf dessen Versuch einer neuen Philosophie der Mathematik und das Ziel einer Enzyklopädie des Wissens, das nach einheitsstiftenden Prinzipien geordnet, strukturiert, zusammengefaßt werden soll. Das riecht nach verspäteter Metaphysik. Radbruch bemüht Heidegger, um zu zeigen, daß sich Novalis'-Hardenbergs Bemühungen um eine Neubegründung des Wissens auch metaphysikkritisch lesen lassen. Doch das wird nur angedeutet, nicht ausgeführt, und das Verhältnis von Konstruktion und Dekonstruktion wird denn auch nicht mehr zum Thema.
Wie viel man an dem doch eigenwilligen Zugang hat, kann Radbruch auch an Kleist zeigen, und, man staune, an Wilhelm Busch, dessen Erzählung "Eduards Traum" sich durch bemerkenswerte mathematische Aktualität auszeichne. Schon Balduin Bählamm war, als freier Musensohn, in die fünfte Dimension ausgewandert, "die fünfte, da die vierte jetzt/ von Geistern ohnehin besetzt". Erst wenige Jahrzehnte zuvor, konstatiert Radbruch, hatten Graßmann und Riemann höherdimensionale geometrische Räume in die Mathematik eingeführt. Bei ganz vielen Autoren kann Radbruch mathematische Spuren im Werk aufweisen, und es ist sympathisch, daß er auch für die weniger Mathematik-Begeisterten Lesestoff bereit hält. Etwa aus dem "Grünen Heinrich" von Gottfried Keller, wo unter vierzig Schülern allenfalls drei dem Mathematikunterricht folgen konnten: "Die übrigen schleppten sich entweder mit mühseliger Aufmerksamkeit und angstvollem Fleiße von Stunde zu Stunde, ohne je recht klar zu sein, oder sie ließen gleich im Anfange die Hoffnung sinken und sich regelmäßig bestrafen."
Die Stärke dieses Buches liegt nicht zuletzt darin, daß es nicht diese Art von Unterricht fortsetzt. Als Germanist denkt man, das Buch eines Kollegen zu lesen: höchst einlässige Interpretationen zu Hermann Hesse, Arno Schmidt, zu Dürrenmatt, Frisch und Brecht, wobei die Mathematik als Interpretament dient, als interpretatorischer Zugriff, der jeweils mit erläutert wird. Ein letztes Kapitel ist "Langzeitstudien" überschrieben, ein etwas merkwürdiger Titel, hat sich der Terminus doch für Studien mit längerer Beobachtungsfrist eingebürgert. Radbruch meint Fragestellungen, Problemkonstellationen, die durch die Zeiten hin reichen. Und selbstverständlich wird er fündig. "Maß, Zahl und Gewicht" ist solch ein Thema, ebenso die "Elemente" des Euklid, d.h. die Frage, wie eine "wissenschaftliche" Beweisführung auszusehen habe. Hier wäre es nun möglich gewesen, stärker auf das 19. Jahrhundert einzugehen, und die Entwicklung differenter Wissensformen und die entsprechenden Streitigkeiten etwas mehr zu beleuchten. Radbruch bleibt beim unterhaltsamen Vorlesungsstil, liebt sein Material, das er stolz und gekonnt präsentiert und in den Schlußkapiteln auf Gedeih und Verderb noch eben unterbringt. Immerhin bekommen wir so noch einen Einblick in die mathematische Bildung Enzensbergers, der nicht nur das Gedicht "Hommage ä Gödel" geschrieben hat, sondern auch dessen Beweistechnik lyrisch umsetzte. Gödel hat 1931 den nach ihm benannten Unvollständigkeitssatz entwickelt, ein paradoxes Unterfangen, darin es darum ging, Nichtbeweisbarkeit zu beweisen. Eine entsprechende Technik, die Gödelisierung, prägt die Form mancher Enzensberger-Gedichte. Und es braucht in der Tat einen Mathematiker, uns das zu erläutern. Das Buch ist mehr als ein bloßer Baustein zur Kulturgeschichte der Mathematik. Es macht auch seinen Anspruch wahr, die Motivgeschichte der Literatur zu bereichern, und trägt selbst zur Formanalyse das Seine bei.
Ein ungemein bereicherndes und gut lesbares Buch, das einen freundlicheren Titel und eine angenehmere Aufmachung verdient hätte.