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ADFC lehnt allgemeine Helmpflicht ab

Der Bundesgerichtshof hat heute entschieden, dass Radfahrer ohne Schutzhelm bei einem Unfall nicht weniger Schadenersatz erhalten dürfen als mit Helm. Der ADFC lehne das Tragen von Helmen nicht grundsätzlich ab, sagte René Filippek (ADFC) im DLF. Er kritisierte, dass bei einer Pflicht die Anzahl der Radfahrer sinke.

René Filippek im Gespräch mit Jule Reimer | 17.06.2014
    An einer Garderobe hängt ein gepunkteter Fahrradhelm.
    Vielleicht hängt dieser Helm bald nicht mehr einsam am Jackenständer. (Deutschlandradio / Melanie Croyé)
    Jule Reimer: Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe entscheidet heute, ob eine Radfahrerin aus Glücksburg in Schleswig-Holstein Mitschuld an Unfallfolgen trifft, weil sie keinen Helm trug. Die Frau hatte sich beim Zusammenstoß mit einem Auto schwer verletzt und forderte vollen Schadensersatz von der Autofahrerin. Weil sie keinen Helm trug, weigerte sich jedoch die Versicherung der Unfallgegnerin, diesen zu zahlen. Die Sache kam vor Gericht und das Oberlandesgericht Schleswig kürzte den Schadensersatzanspruch der Frau um 20 Prozent. - Kurz vor dieser Sendung fragte ich René Filippek, Sprecher beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub ADFC, wie sein Verein zu solchen Kürzungen steht?
    René Filippek: Wir halten dieses Urteil, so wie es gefallen ist, für reichlich paradox, weil das Gericht immerhin festgestellt hat, dass das Unfallopfer keinerlei Schuld am Unfall hat. Trotzdem muss das Opfer Schuld an den Unfallfolgen tragen. Das halten wir für nicht gerechtfertigt. Das widerspricht auch der bisherigen Rechtsprechung. Es gab vorher und nachher Urteile genau zu ähnlich gelagerten Fällen, wo es genau anders herum ausgegangen ist, und daher gehen wir auch davon aus, dass dieses Urteil heute zurückgenommen wird.
    Unterschied zwischen Sport- und Alltagsbereich
    Reimer: Wir haben aber einen gewissen Trend. Zum Beispiel Rennradfahrer riskieren schon jetzt Einbußen bei ihren Ansprüchen, wenn sie helmlos über die Straße jagen. Und einem Skiläufer ohne Helm, der ohne eigenes Verschulden auf der Piste umgefahren worden war, attestierte das Oberlandesgericht München ein Mitverschulden seiner Verletzungen und auch ihm wurde der Versicherungsanspruch gekürzt.
    Filippek: Ja. Dort, wo es in den Sportbereich geht, argumentiert man eben damit, dass bei Radsportlern höhere Geschwindigkeiten erreicht werden und ein höheres Risiko eingegangen wird. Daher ist die Rechtsprechung dort so. Aber im Alltagsbereich ging man bisher davon aus, dass es kein besonderes Risiko gibt, was übrigens auch von der Unfallstatistik durchaus gestützt wird, und daher haben Gerichte bisher immer anders geurteilt. Es wäre etwas anderes, wenn es eine Helmpflicht gäbe. Dann wäre das Urteil nachzuvollziehen. Aber unter den entsprechenden Gegebenheiten heute ist es das eben nicht, und daher halten wir das auch für falsch und wünschen uns natürlich, dass dieses Urteil entsprechend auch zurückgenommen wird.
    Helmpflicht, wie ein Medikament, das starke Nebenwirkungen hat
    Reimer: Sind Sie denn für eine allgemeine Helmpflicht?
    Filippek: Nein! Wir lehnen eine allgemeine Helmpflicht ab.
    Reimer: Warum?
    Filippek: Wir lehnen es nicht ab, Fahrradhelme zu tragen. Aber eine Helmpflicht kann man ungefähr mit einem Medikament vergleichen, das starke Nebenwirkungen hat. Wir wissen zum Beispiel aus Australien, dort wurde eine allgemeine Helmpflicht eingeführt. Kurz danach ist der Anteil des Radverkehrs aber stark eingebrochen. Das ist jetzt zum einen schon mal nicht wünschenswert, aber kritisch wird es dadurch, dass nämlich die Unfallzahlen und die Verletztenzahlen und die Opferzahlen nicht in gleichem Maße zurückgegangen sind. Das heißt, jeder Radfahrer in Australien, der jetzt noch unterwegs ist, trägt ein wesentlich höheres Risiko, einen Unfall zu erleiden, als das vor der Helmpflicht der Fall war.
    "Für die Sicherheit ist es wichtiger, dass viele Radfahrer unterwegs sind"
    Reimer: Gleichzeitig ist es aber schon so, das sagt auch eine Studie der Medizinischen Hochschule Hannover, dass die Gefahr, sich bei einem Fahrradunfall schwer zu verletzen, sich reduziert, wenn man einen Helm trägt, und nicht umsonst sagt man ja auch, Kinder sollen einen Helm tragen.
    Filippek: Richtig! So individuell betrachtet ist das korrekt. Deswegen haben wir ja auch nichts dagegen, dass Fahrradhelme getragen werden. Aber für die Sicherheit ist es wichtiger, dass viele Radfahrer unterwegs sind. Das kennen wir nämlich aus Ländern wie zum Beispiel den Niederlanden oder Skandinavien, wo viel Rad gefahren wird. Dort sind wesentlich mehr Radfahrer unterwegs, die fast alle keinen Helm tragen. Dort spielt der Helm im Alltag überhaupt keine Rolle und trotzdem ist das individuelle Risiko wesentlich geringer als zum Beispiel hierzulande.
    Reimer: Was verändert sich dann?
    Filippek: Das hat vor allem mit Wahrnehmung zu tun. Wenn Autofahrer ständig mit Radfahrern quasi konfrontiert sind im Straßenverkehr, haben sie sie auch immer auf dem Schirm. Das heißt, ich weiß, es sind viele Radfahrer unterwegs, also gucke ich, mache ich den Schulterblick beim Rechtsabbiegen. Wenn ich nicht so häufig Radfahrer sehe, dann biege ich auch schon mal so ab, weil ich nicht an sie denke.
    Natürlich auch vom reinen Zahlenverhältnis her nötigen einen Radfahrergruppen: Man steht an einer roten Ampel und zehn Radfahrer, dann hat das einen anderen Effekt, als wenn da ein einzelner Radfahrer steht. Das heißt, auch der gegenseitige Respekt nimmt zu, wenn sich die Zahl der Radfahrer erhöht, und da entsprechend auch die Sicherheit. Und natürlich muss man auch an der Rad-Verkehrsinfrastruktur ansetzen, um die Sicherheit zu erhöhen. Gerade diese alten Radwege aus den 70er-, 80er-Jahren sind ja nachgewiesenermaßen Unfallschwerpunkte. Da muss man natürlich dran!
    "Begründung nicht überzeugend"
    Reimer: Sagen Sie: Wie, glauben Sie, geht die Verhandlung aus?
    Filippek: Wir sind uns ziemlich sicher, dass das Urteil zurückgenommen wird, einfach weil die Begründung nicht überzeugend ist. Es wird ja damit begründet, dass es eine allgemeine Überzeugung gibt, dass der Radhelm sinnvoll ist. Aber wenn man guckt, in Deutschland gibt es eine Helmtragequote so zwischen 10 und 15 Prozent. Das langt natürlich nicht, um eine allgemeine Überzeugung nach der Sinnhaftigkeit eines Helms zu belegen. Das müsste dann schon eine deutlich höhere Zahl sein. Daher gehen wir auch davon aus, dass das Urteil zurückgenommen wird.
    Reimer: Dieses Interview mit René Filippek vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub ADFC haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet und die Entscheidung des Bundesgerichtshofes zum Streit um das Tragen von Fahrradhelmen wird gegen zwölf Uhr um die Mittagszeit erwartet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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