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Radfahren entlang der Erft
Ein Flüsschen mit Tiefgang

Von Franz Nussbaum | 03.05.2015
    Mit einer leichten Brise Frühling im Rücken rollt es auf dem Erftradweg bei trockenem Wetter sehr gut. Wir sind also abseits von Autostraßen unterwegs, was ja auch für mitradelnde Kinder wichtig ist. Mal hat die Erft geschätzte fünf Meter Breite, mal darf sie auch etwas mehr ausbuchten. Laut Ausschilderung sind wir nun in einem Abschnitt mit vielen Erft-Burgen unterwegs. An die 20 Kastelle und Schlösser sind an der mittleren Erft aufgereiht und nennen sich die "Wasserburgen-Route". Aber was sagt das? Die Burgen bleiben meist dem 08/15-Besucher verschlossen, ihre Geschichten sind manchmal nur unverständlich aufgearbeitet. Und wenn wir unsere Erft nach ihren Burgen-Herrn befragen, seufzt sie:
    "Es ist wie immer. Zu oberst die Kurkölnischen Fürstbischöfe. Mal tut man so, als hätten sie das fruchtbare Erft-Land direkt von Gottes Hand überschrieben bekommen. Mal haben sie es einfach anderen weggenommen. Mal ist das Land denen 'von Trutz zu Donnersberg# auf dem Sterbebett abgeschwatzt worden in Furcht vor dem ewigen Höllenfeuer in Ewigkeit, Amen."
    Eine nachdenkliche Auslegung, als habe sie vielleicht Heinrich Böll mit seinem gesellschaftskritischen Literatur-Geist seiner Erft eingeflüstert. Und hätten wir vor rund 900 Jahren hier in der Gemarkung bei Kessenich nördlich von Euskirchen die Erft überquert, dann wären uns einige dieser hohen Kurfürstlichkeiten begegnet. Heute weist nichts mehr hier darauf hin, dass auf diesen Feldwegen einst die Aachen-Frankfurter-Heerstraße verlief und die Erft queren musste.
    Heerstraße, gleichzeitig wichtiger Handelsweg zwischen Frankfurt und den Niederlanden, Brabant, Flandern. Und diese mittelalterliche Straße war auch der Krönungsweg der römisch-deutschen Könige. Rund 30 solcher Krönungszüge nach Aachen sind verbürgt. Und damit wir uns das etwas vorstellen können greifen wir uns Friedrich I., wegen seiner Haare auch Barbarossa gerufen heraus. Was könnte uns die Erft dazu erzählen? Michael Kleu hilft historisch etwas aus.
    "Der Wahl des junge Friedrich von Schwaben zum deutschen König in Frankfurt ist Anfang März 1152, vor rund 850 Jahren. Nach dem Treueeid der anwesenden Fürsten kalkuliert Friedrich nur vier Reisetage von Frankfurt bis Aachen. Das sind damals um die 260 Kilometer in nur vier Tagen. Er ist mit geschätzt 5.000 Begleitern und Würdenträgern und deren Entourage unterwegs. Erst mit der pompös inszenierten Krönung am Grabe Karls des Großen ist er auch real der neue König. Hier an der Furt durch die eiskalte Erft staut es sich im März. Hoffentlich hatte die Erft 1152 kein Schmelzhochwasser. Vielleicht war hier auch eine Verpflegungsstation? Hufe beschlagen, Pferdewechsel." Und wir lesen in den königlichen Reisenotizen:
    "Friedrich schifft sich anfangs mit Gefolge in Frankfurt ein und fährt den Main und den Rhein abwärts über Koblenz bis Sinzig. Er wird von rund 3.000 schwäbischen Rittern und Knappen geschützt, die auch die königlichen Schiffe beiderseits des Rheins auf dem Landweg sichern. Die letzten 100 Kilometer von Sinzig nach Aachen, quer durch die Eifel, steigt man auf Pferde um und reiten die steil ansteigenden Eifelhöhen hinan, auf unbefestigten, morastigen Feldwegen weiter."
    "Stellen wir uns auch einachsige Karren mit Gepäck und Fourage der Regis Romanorum vor. Mit dabei Prunkzelte, Ersatzpferde, unförmige Kästen auf Rädern, eine Art Kutsche für vielleicht hochschwangere Königinnen. Dazu Herolde, Erzbischöfe, all das staut sich hier an dieser Erft-Furt."
    Lassen wir uns eine kleine andere Begebenheit dieses Krönungsweges herausgreifen. Knapp 20 Jahre später ist auch Barbarossas Filius, der erst vierjährige Heinrich VI. auch auf dem Weg zu seiner Kinder-König-Krönung nach Aachen. Ein Vierjähriger.
    "Der kleine Heinrich ist auf Drängen seines kaiserlichen Vaters, von den Kurfürsten zu Bamberg zum Mitkönig gewählt worden. Und mit dem vierjährigen Knirps ist auch seine siebenjährige Braut, Anna von Brabant, in Aachen schon mit dabei."
    Wie mag denn jetzt so ein kleiner König transportiert werden? Und diese Frage hört auch der Tom mit. Der ist ungefähr acht Jahre und mit seinem Vater mit Mountainbikes auch auf dem Erft-Radweg unterwegs. Tom, du bist jetzt der Reisemarschall. Wie kommt denn so ein Vierjähriger am besten von Bamberg nach Aachen?
    "Es könnte sein, dass eine Leibwache von dem oder ein erfahrener Reiter den so vorne auf dem Pferd sitzen hat und den mit einer Hand festhaltet, dass der auch auf einem Kindersattel sitzt."
    Hast du sehr schön dir ausgedacht. Was glaubst du, in welchem Alter hat denn so ein Königssohn selber reiten gelernt?
    "Also wenn ich jetzt der Königssohn wäre könnte ich vielleicht Reiten mit fünf, sechs lernen."
    Wärst Du denn auch gern ein Königssohn geworden? Oder ein Prinz?
    "Ja, da hätt ich einen Diener, da müsste ich nichts machen. Aber das wär ja auch nicht die schönste Zeit, weil der Prinz war schon mit vier Jahren verlobt, mit einer siebenjährigen Prinzessin. Und wenn ich jetzt der vierjährige Prinz wär dann wär meine Frau drei Jahre älter."
    Das erzählt einem die Erft, wenn man hier so stehen bleibt. Dann läuft die Fantasiemaschine im Kopf ab. So denkt ein flinker Mountainbiker, wenn uns die Erft vom Krönungsweg erzählt. Wir kommen spätestens nun auch in eine Region, die heute vom Braunkohle-Tage-Abbau gezeichnet ist. Mutter Grün hat sich aber schon viele Kilometer Erftland zurückerobert, vieles ist schon wieder renaturiert.
    Auch der Erft selber wurde wegen der Kohle, die man mit dem Kohlenabbau machen konnte, auch wegen der vielen Arbeitsplätze wurde sie mehrfach mit ihrem Bett verlegt. Sie wurde drangsaliert, kanalisiert, vergewaltigt, auch mit warmen Kühlwasser von Turbinen aufgefüllt. Hat sich aber bis heute zu einem Naherholungsgebiet mit Tiefgang entwickelt.
    Und dann hält mich die Erft an und flüstert mir zu, wenn ich doch wegen Heinrich Böll und Carl Schurz nach Lechenich und Liblar will, dann müssten wir jetzt kurz abbiegen, das wäre gleich da drüben.
    Und da drüben ist der Ort. Da beginnt ein öffentlicher Park, alleine die Bäume mitten darin das Wasserschloss Gracht. Und ein Bronzedenkmal weist auf Carl Schurz hin. Walter Keßler hat ein Buch über Carl Schurz geschrieben, der 1829 an diesem Wasserschloss geboren wurde.
    "Hier, genauer auf der Vorburg von Schloss Gracht. Sein Großvater war Pächter bei den Grafen Wolff-Metternich zur Gracht. Sein Vater war Lehrer hier im Dorf. Und Schurz ist hier groß geworden. Hat sich immer gerne daran erinnert, auch wenn er später in Köln, in Bonn oder in Washington, in New York gelebt hat. Er ist auch als gestandener amerikanischer Minister, General, Senator immer wieder in die alte Heimat zurückgereist. Erstaunlich oft, wenn man an die Verkehrsbedingungen denkt, das war ja nicht so einfach wie heute."
    Einige Lebensdaten und Reisenotizen im Zeitraffer. Zusammengestellt von Schülern der Carl Schurz-Schule in Liblar:
    "Carl Schurz besucht die dörfliche Volksschule, später das Kölner Jesuiten Gymnasium. Er muss aus finanziellen Gründen die Schule verlassen, baut aber als 17-jähriger sein Abitur. Studiert in Bonn und schließt sich mit grade 19 Jahren auch der Deutschen Revolution von 1848 an, kämpft schließlich in der Festung von Raststatt gegen Preußen. Muss dann in die Schweiz flüchten und befreit zwei Jahre später seinen revolutionären Mentor und Bonner Professor Gottfried Kinkel in Berlin aus dem Spandauer Zuchthaus."
    Bei dieser couragierten Befreiungsaktion in Berlin wagt sich also der Student Schurz in die Herzkammer des Preußentums. Schurz und die anderen revoltieren ja für ihre bürgerlichen Freiheiten und gegen das feudal-konservative Obendrüber-System. Der preußische König lässt 1848 Unter den Linden auf seine unzufriedenen Bürger kartätschen. Schurz flüchtet schließlich über London nach Amerika. Blättern wir einige Seiten seines Lebens in der Neuen Welt auf.
    "Das war ja in den USA die Zeit, als die Republikanische Partei gegründet wurde, die sich die Abschaffung der Sklaverei auf die Fahnen geschrieben hatte. Und das lag natürlich auf der Linie von Schurz. Deswegen hat er Lincoln im ersten und im zweiten Wahlkampf unterstützt. Und er hat immerhin viele Stimmen der Deutschstämmigen für die Republikaner gewinnen können. War aber auch General aufseiten der Nordstaaten im Bürgerkrieg. Als Hayes Präsident wurde hat er ihn zum Innenminister gemacht. Und da hatte er drei Schwerpunkte. Einmal eine Verwaltungsreform, gerechtere Indianerpolitik, und auch die ersten Anfänger von Naturschutz. Sozusagen einer der ersten Grünen und hat sich auch für die Erhaltung von Nationalparks eingesetzt."
    Was man von der Erft oder an ihren den Ufern alles er-fahren kann, wenn man fragt. Und so fragen wir auch nach Heinrich Böll, der mehrfach in diesem Park am Wasserschloss so in den 1960-er Jahren spaziert ist.
    "Böll zog es unter anderem deshalb nach Schloss Gracht, das damals als Hotel
    benutzt wurde, weil er da Ruhe hatte und immerhin fünf seiner Texte geschrieben hat. Darunter wahrscheinlich das 'Ende einer Dienstfahrt', als im nahen Lechenich das Amtsgericht und der Amtsrichter Vorbild eine Figur in diesem Text war."
    Böll schreibt das "Ende einer Dienstfahrt" mit 49 Jahren. Seinen Literatur-Nobelpreis bekommt er sechs Jahre später. Das "Ende einer Dienstfahrt" ist eine bitterböse Parabel. Da soll vor dem Amtsgericht eines kleinen Erftstädtchens in rheinisch-verschlagener Bauernschläue eine Brandstiftung an einem Bundeswehr-Jeep geklärt werden. Aber in der Vertuschung dieser Böll'schen Dienstfahrt rheinländert sich der Dorfrichter, auch die redlichen Zeugen und die Anklage durch die Verhandlung. Bölls Erzählung kommt 1971 auch als Literaturverfilmung in die Kinos, unter anderem mit Günter Strack und Wolfgang Büttner.
    Und statt mit Böll und Jeep radeln wir weiter auf dem Erftradweg. Legen einen Zahn zu und nähern uns dem Erftstädtchen Kerpen. Und die Erft bereitet uns schon etwas auf Kerpen und auf seine beiden Schu(h)macher vor.
    "Kerpen hat zwei große Söhne. Der eine heißt Michael Schumacher, und ist mehrfacher Automobil-Weltmeister. Es geht ihm bekanntlich nicht gut, ein Unfall. Der andere war Schuhmacher und heißt Adolf Kolping. Es liegen zeitlich 160 Jahre zwischen den beiden. Kolping, der Schustergeselle, wird später Priester und sozialer Gesellenvater. Und er wird 1991 von der Kirche seliggesprochen. Michael Schumacher wird auch verehrt, von Fans, von 'Bild' und Bitburger."
    Das erzählt uns die Erft. Und wieder könnte es in seiner durchtriebenen Verschmitztheit von Heinrich Böll stammen. Adolph Kolping ist vor 190 Jahren ein Wander-Schuster-Geselle. Als ZwölfJähriger hat der Sohn eines armen Lohnschäfers, der mit der Herde eines Gutsbesitzers 360 Tage im Jahr unterwegs ist. Und der Sohn hat neben der Schule schon das Schustern gelernt. Mit 16 tippelt Kolping los, als Wanderschustergeselle. Was heißt das? Aus den Reisenotizen eines früheren Wanderschustergesellen mit seiner Flickschusterwerkstatt aus dem Rucksack. Denken wir uns in ein Dörfchen auf den abgelegenen Eifelhöhen ein.
    "Jeder im Dorf hinter den sieben Bergen hat genau zwei paar Schuhe. Ein paar 'gute' schwarze Schuhe für die Kommunion, für Beerdigungen und wenn der Weihbischof zur Firmung anreist. Neben den guten Schuhen hat jeder in den kinderreichen Familien, wenn er auf den Feldern und im Stall mit zupacken muss, auch ein paar groblederne Arbeitsschuhe. Deren Sohlen sind mit flachköpfigen Nägeln zugenietet. Damit sind die Sohlen fast 'unkaputtbar'. Diese Arbeitsschuhe trägt jedes Kind, Junge oder Mädchen, an sieben Tagen in der Woche, ab frühmorgens halb sechs im Stall. Da muss das Vieh gemistet werden. Dann geht es mit den Stallmist-Schuhen um sieben Uhr zur täglichen Messe in die Kirche. Weiter, ab acht Uhr in die kleine Dorfschule. Nach einem hastigen Mittagessen werden mit dem groben Schuhwerk auf den Feldern Steine gesammelt oder Kartoffeln aufgelesen. Die Nagelschuhe trägt man bis in den Abend, bis das Vieh erneut gefüttert und gemistet ist. Nur zur Nachtruhe zieht man die Nageltreter aus, weil sie sonst wahrscheinlich angewachsen wären."
    Hört sich auch fast wieder wie Heinrich Böll an. Die Jungenschuhe werden unter den sieben Söhnen des kinderreichen Bauern Niklas weiter gegeben. Die Mädchenschuhe ebenso von seinen sechs Töchtern. Das ist der erste Teil der Geschichte um das Jahr 1950, also vor 65 Jahren, die ich selber in dem Eifeldorf gesehen habe. Und weiter heißt es:
    "Im Winter klopft dann der Wanderschustergeselle an, legt fast zwei Tage den Bauernhof lahm. Deswegen freuen sich alle Kinder auf den Schuster. Für die zwei Tage bekommt der Wanderschustergeselle Kost und Logis und ein kleines Geld. Für die gut 15 Bauernhäusern im Dorf ist er drei Wochen lang ausgebucht."
    Danach zog Adolf Kolpings Schustergeselle weiter auf seiner Wanderschaft durch die Eifel und an der Erft entlang soweit die Füße tragen. Und die Erft kennt auch die Geschichte von einem jungen Wanderschuster, auch von seinen heimlichen Treffs mit dem Hildchen in der Hofscheune, was wir kleineren Jungens belauscht haben. So kamen in jenem Jahr die Aufklärung und auch der Frühling etwas früher als gedacht in die Eifel und an die Erft.