Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Radioaktiver Gletscherstaub
Kryokonit birgt ein strahlendes Geheimnis

1870 bemerkte der schwedische Polarforscher Adolf Erik Nordenskiöld dunkle Löcher im Eis eines Gletschers. Das bräunliche Pulver darin nannte er Kryokonit. Der dunkle mineralische Belag lässt das Eis schneller schmelzen. Und er ist erstaunlich oft radioaktiv, wie Analysen nun belegen.

Von Dagmar Röhrlich | 29.10.2019
Ein weiß-blau schimmernder Gletscher am Meer im Vordergrund, dunkle Berge im Hintergrund
Die schwarzen Ablagerungen auf Gletschereis sind überraschend oft radioaktiv - das belegt eine Untersuchung (imago/blickwinkel/AGAMI M. Guyt)
Der Kryokonit ist kein neues Phänomen, doch die Aktivität der Menschheit hat die Menge regelrecht explodieren lassen. Denn seine Ausgangssubstanz trägt der Wind heran - manchmal über Tausende von Kilometern hinweg. Es ist Gesteins- und Wüstenstaub, dazu Aschepartikeln vulkanischer Eruptionen und inzwischen jede Menge Ruß. Ruß aus Waldbränden, den Abgasen der Dieselmotoren, der Industrie- und Kraftwerksschornsteine, erklärt Giovanni Baccolo von der Universität Milano-Bicocca.
"Kryokonit entsteht nur im Sommer, wenn die Gletscher schmelzen und Wasser den Staub zusammenschwemmt, den der Wind auf die Oberfläche geweht hat. Kryokonit besteht aus Mineralen und organischer Substanz."
Die organische Substanz, das ist der Ruß aus diesen weit entfernten Quellen - und das ist Material, das vor Ort entsteht, durch die Aktivität von Mikroorganismen, die in Biofilmen auf den Partikeln leben. Nun hat dieser Kryokonit eine ganz besondere Eigenschaft: Er saugt Schadstoffe auf wie ein Schwamm. Nicht nur Schwermetalle, sondern auch Radionuklide – die natürlichen aus dem Gestein der Umgebung ebenso wie den Fallout von Atombombentests und Reaktorunfällen.
Kryokonit ist mitunter stark radioaktiv
"Wenn wir die radioaktive Belastung von Flechten, Moosen oder Böden mit der von im Kryokonit vergleichen, kann die darin bis zu 100 Mal höher sein."
Die Werte, die Wissenschaftler im Kryokonit messen, können für Gebiete außerhalb einer Sperrzone wie der von Tschernobyl außergewöhnlich hoch werden. Carolin Clason von der Universität Plymouth hat auf 17 Gletschern - von der Arktis bis zur Antarktis - Kryokonit untersucht. In einem Gletscher in der schwedischen Arktis enthielt der Kryokonit pro Kilogramm 3069 Bq Cäsium 137, auf dem Morteratsch-Gletscher in der Schweiz 13558. Das ist fast das Zehnfache dessen, was im Fleisch für den menschlichen Verzehr sein darf.
Strahlende Substanzen reichern sich an
Wie die hohen Werte zustande kommen, dazu haben sie und ihre Kollegen eine Theorie entwickelt:
"Wir glauben, dass das daran liegt, dass die Radionuklide über mehrere Stufen aufkonzentriert werden: Der Schnee holt sie aus der Luft, und sie landen auf dem Gletscher. Dort wird der Schnee durch die nachfolgenden Schneefälle zu Eis verdichtet, und dabei werden auch die Radionuklide zusammengepresst. Wenn das Eis schmilzt, spült das Schmelzwasser die Radionuklide weg. Und wenn dieses Wasser dann durch den Kryokonit sickert, nimmt der die Radionuklide daraus auf."
Dabei scheinen Biofilme auf den mineralischen Kryokonitteilchen eine zentrale Rolle zu spielen:
"Wir haben noch nicht alle Proben analysiert, aber es sieht so aus, als ob die Proben mit dem höchsten organischen Gehalt auch die höchsten Anteile an Radionukliden aufweisen."
Nuklearunfälle und Atomtests haben Spuren hinterlassen
In den Proben von der Nordhemisphäre dominieren jedenfalls die Signale der Reaktorunfälle von Tschernobyl und Fukushima, in denen von der Südhemisphäre die der oberirdischen Atomwaffentests im Pazifik. Inwieweit die Belastung des Kryokonits mit radioaktiven Stoffen ein Risiko darstellt, wird derzeit untersucht. Die Forscher wollen wissen, ob die angereicherten Radionuklide durch die weltweite Gletscherschmelze in die Nahrungskette gelangen – und welche Auswirkungen das haben könnte.