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Radiolexikon: Blinddarm

Reichstagspräsident Friedrich Ebert ist 1925 an einer Blinddarmentzündung gestorben. In seltenen Fällen, vor allem wenn die Erkrankung zu spät entdeckt wird, kann es auch heute noch um Leben und Tod gehen. Besser ist es also, auf die Symptome genau zu achten.

Von Justin Westhoff | 22.07.2008
    "Mitten in der Nacht geht's los. Bauchschmerzen. Ich denke: "Oh grimmes Weh durchweht die Eingeweide grausam gräulich". Ich versuche Schmerz meistens mit Lyrik zu bekämpfen."

    Wenig später:

    "Der Aufnahmearzt kam gleich zur Sache. Er drückte auf den Blinddarm, und ich hatte das Gefühl, mein Bauch würde explodieren. "Das ist ja herrlich klassisch bei Ihnen", sagt der Arzt, "ein Lehrbuchappendix, denn eigentlich ist es ja gar nicht der Blinddarm, sondern der Wurmfortsatz, der Appendix". - "Herr Doktor, werde ich durchkommen?" - "Ach, so ein Appendix. Den kratzt zur Not der Pförtner mit dem Löffel 'raus." - Medizinerhumor ist manchmal etwas sperrig. Diesen Pförtner-Blinddarmwitz werde ich den nächsten drei Stunden noch 27 mal hören."

    Selbstverständlich ist dieser - hier gekürzte - Text des Satirikers Horst Evers übertrieben, ganz leicht übertrieben. Der reale Chirurg kann darüber auch nicht wirklich lachen.

    "Es gibt letztlich keine leichte Operation. Jede Operation ist verantwortungsvoll und muss so perfekt wie möglich durchgeführt werden."

    Und dies gilt eben auch für den Blinddarm und sein Anhängsel, bei dem man sich fragen muss, wozu es überhaupt dient. Dr. Ulrich Fegeler vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte:

    "Der Blinddarm ist eigentlich nur kurzes Stück des Dickdarms, welches unterhalb der Einmündung des letzten Teiles des Dünndarms liegt. Das, was wir aber mit Blinddarm meinen oder mit Blinddarmentzündung, ist gar nicht der Blinddarm, sondern ist der Wurmfortsatz dieses Blinddarms, das ist ein ebenfalls merkwürdiges Gebilde, was insbesondere bei den Grasfressern noch eine wichtige Funktion hat. Denn der Blinddarm beherbergt hier Kulturen von Bakterien, die ganz wichtig sind für die Verdauung der Zellulose. Beim Menschen hat er eigentlich seine Bedeutung verloren, und dieser Wurmfortsatz kann eben von harmlosen bis hin zu sehr ausgeprägten Symptomen sehr, sehr unterschiedliche Bilder machen, die leider Gottes viele, viele Generationen von Medizinern haben verzweifeln lassen."

    Auch die Frage, warum dieses Relikt, dieses überflüssige Organ überhaupt Probleme bereiten kann, weiß man nicht genau.

    "Da gibt es verschiedene Hypothesen, warum er das tut, häufig sind so genannte kleine Kotsteinchen daran beteiligt, es gibt auch mal andere Nahrungsbestandteile, die hart und unverdaulich sind und eben in diese Sackgasse geraten können, und es kann sich dort Sekret stauen, es kann zu Entzündungen kommen, je nach dem wie auch immer sich eine solche Entzündung auch ausbreitet, gibt es unterschiedliche Verläufe und Bilder, die gefürchtetste Form ist ja dann der stark Eiter gefüllte Blinddarm, der dabei stark anschwillt und so dick werden kann wie ein Frankfurter Würstchen, und dann die allergefürchtetste Komplikation, wenn dann dieser eitergefüllte Blinddarm irgendwann platzt und den Eiter in die freie Bauchhöhle ergießen lässt."

    Die so genannte Blinddarmentzündung kommt zwar am Häufigsten im Kindes- und Jugendalter vor, aber keineswegs ausschließlich. Erwachsene denken oft, es handele sich um "banale Bauchschmerzen". Professor Ferdinand Köckerling, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Viszeral-, also Bauchchirurgie:

    "Es ist leider heute immer noch so, vor allen Dingen bei älteren Patienten, dass die häufig viele Tage mit dieser Blinddarmentzündung schon herumgelaufen sind und nicht zum Arzt gegangen sind, und dann kommen diese Patienten mit einer schwersten Bauchfellentzündung im gesamten Bauchraum."

    Und das kann richtig gefährlich werden. Reichstagspräsident Friedrich Ebert ist 1925 an einer Appendizitis gestorben. In seltenen Fällen, vor allem wenn die Erkrankung zu spät entdeckt wird, kann es auch heute noch um Leben und Tod gehen. Besser ist es also, auf die Symptome genau zu achten, die der Berliner Kinderarzt Ulrich Fegeler erläutert:

    "Wenn der Wurmfortsatz typisch liegt, das heißt also nicht hinter den eigentlichen Blinddarm geschlagen ist, dann ist es doch so, dass das auftritt, was wir so klassisch als Rechts-Seiten-Unterbauch-Schmerz bezeichnen, also ein zunehmender, nicht in Wellen, sondern ständig eben auftretender Schmerz, meistens kommt es doch zu einem Reiz am Bauchfell, wodurch eine muskuläre Abwehrspannung erreicht wird. Dann natürlich die Intensität des Schmerzes. Wenn sie nur ein bisschen draufdrücken bei einer Blinddarmentzündung, geht der Patient schon an die Decke."

    Hinzu wird die Sicherung der Diagnose mittels Ultraschall. gesichert.

    Eine Vorbeugung gegen Appendizitis gibt es nicht. Und nicht nur Chirurgen erklären die Diskussion für beendet, ob sich eine Operation mit Hilfe von Medikamenten vermeiden lässt.

    "Von allem, was wir heute wissen, kann man ganz klar sagen: Eine Blinddarmentzündung gehört auf jeden Fall operiert. Nur, wenn keine ärztliche, operative Hilfe, in der Nähe ist, kann man das mal mit Antibiotika behandeln. Aber das ist mit Sicherheit die absolute Ausnahme."

    Dabei räumt der Chirurg Ferdinand Köckerling aus Berlin ein, dass es - früher wie heute - zu Komplikationen kommen kann:

    "Es gibt ein Foto von Marilyn Monroe mit einer ganz furchtbaren Narbe nach einer offenen Blinddarmoperation, die ist ganz groß und ganz tief, also sehr hässlich. Es ist so, wenn der Blinddarm tatsächlich massiv entzündet ist, werden Keime in die Wunde hineingestreut, und wenn die sich dann in der Wunde verbreiten, geht die Wunde auf, und das bedeutet dann eine sehr lange Behandlung mit einer sehr hässlichen Narbe."

    Mit der viel gepriesenen "Schlüssellochchirurgie" können große Narben vermieden, Schmerzen nach der OP verringert und Krankenhausaufenthalte verkürzt werden. Doch auch heute noch wird höchstens die Hälfte aller "Blinddarm-Operationen" minimal-invasiv gemacht - auch das nicht immer zufriedenstellend. Denn schonende Eingriffe über einen kleinen Bauchschnitt mit Hilfe eines Endoskops sind nichts für Skalpell-Anfänger. Sowohl in der Fortbildung der Ärzte als auch bei der Ausrüstung der Kliniken gibt es Lücken.

    "Es ist eben leider immer noch so, dass nicht in allen Kliniken in Deutschland zu jeder Uhrzeit, auch am Wochenende, erfahrene minimal-invasive Operateure zur Verfügung stehen. Und da ist es tatsächlich besser, wenn es offen gemacht wird."

    Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie verspricht, dass die Qualifikation von Operateuren, die mit der neuen Technik arbeiten möchten, künftig geprüft wird. Doch in der Regel ist die Entfernung des Wurmfortsatzes - egal ob "klassisch" oder minimal-invasiv - eben doch keine so große Sache.

    Auch Horst Evers, der Kabarettist, hat's überlebt.

    "Ich wache wieder auf. Der Anästhesist ist da. - "Wie geht's und denn?" - "Ohgaggfkzhsy ... ". - "Wird schon wieder, die Operation ist gut verlaufen. In drei Wochen ist Ihr Knie wieder wie neu!" - "Lkulululjkl, ich war der Appendix". - "Ich weiß, kleiner Scherz". - In diesem Moment wusste ich: Ich war wieder unter den Lebenden, bei den lustigen Medizinern.""