Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Radiolexikon Gesundheit: Aderlass

Der Aderlass war seit der Antike eine Universaltherapie bei den unterschiedlichsten Beschwerden. Ärzte und Patienten glaubten fest an seine Wirksamkeit. Mittlerweile erlebt das Verfahren in der modernen Medizin bei einigen Erkrankungen eine Renaissance.

Von Lennart Pyritz | 24.09.2013
    Die mittelalterliche Heilkundlerin Hildegard von Bingen empfahl sie zur Entgiftung und gab detaillierte Anweisungen zu ihrer Durchführung. Den in seinen späten Jahren an einer Kehlkopfentzündung leidenden George Washington, der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, könnte ihre übermäßige Anwendung dagegen ins Grab gebracht haben. Der Name der blutigen Therapie: Phlebotomie oder Aderlass.

    "Wenn man in der Medizingeschichte zurückblickt, dann spielt der Aderlass in Europa, im Nahen Osten, in der Tradition der Medizin, die im Letzten sich auf Hippokrates und Galen zurückführen lässt, eine ganz zentrale Rolle."

    Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Köln. Die Technik des Aderlasses ist seit der Antike über all die Jahrhunderte gleich geblieben.

    "Der hat eine Ader gestaut, am Arm oder am Bein, und hat sie angeritzt und hat dann eben in eine Schale das Blut reinfließen oder –tropfen lassen."

    Durchschnittlich einen halben Liter zapften die Ärzte ihren Patienten ab, schätzt der Medizinhistoriker. Dabei arbeiteten sie durchaus hygienisch; flammten ihr Messerchen – die Lanzette – ab, bevor sie eine Vene damit öffneten. Als Chirurgen im klassischen Sinn verstanden sich die frühen Mediziner nicht, heute würde man sie eher als Internisten bezeichnen: Der Aderlass war der einzige blutige Eingriff, den sie vornahmen. Der Glaube an die Wirksamkeit der Therapie beruhte auf der Vier-Säfte-Lehre.

    "Das ist eine Idee, die schon die alten Griechen entwickelt hatten, und die Griechen haben das wahrscheinlich aus Indien übernommen. Der gesunde Mensch wird definiert als ein Mensch, bei dem die vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle harmonisch, gleichmäßig verteilt sind. Und wenn nun einer dieser Körpersäfte sich vermehrt oder vermindert in Relation zu den anderen, wird das Individuum krank."

    Die Ärzte diagnostizierten auf der Grundlage dieser Vorstellung oft einen Überschuss an Blut.

    "Blut wurde assoziiert mit Hitze, mit einer gewissen Feuchtigkeit, und dieser Überschuss an feuchter Hitze definierte bestimmte Krankheiten."

    Zum Beispiel die Pest. Die Krankheit wurde nach damaliger Vorstellung durch Miasmen übertragen: infektiösen, schwülen Dunst. Die Menschen atmeten diesen Dunst ein, und der setzte im Körper einen Fäulnisprozess in Gang. Also schlussfolgerten die Ärzte bei einem solchen Patienten:

    "Wir reduzieren in ihm den Anteil seiner Körpersäfte, der für Hitze und Feuchtigkeit verantwortlich ist: Wir reduzieren das Blut."

    Jahrhunderte lang wurden Menschen bei Epidemien, Aussatz und inneren Entzündungen zur Ader gelassen. Allerdings nur ein Bruchteil der Bevölkerung: In Europa hatten bis zum 18., 19. Jahrhundert lediglich drei bis fünf Prozent der Menschen in ihrer Lebenszeit Kontakt mit einem Arzt. Zur Standardbehandlung wurde der Aderlass auch mangels Alternativen.

    "Man war bei vielen Therapien hilflos, und wenn man ganz hilflos war, dann schritt man auch zum Aderlass. Das ist natürlich kein Ruhmesblatt für die alten Ärzte. Aber die heute so genannte innere Medizin war letztlich vielen Phänomenen von Krankheiten doch ein Buch mit sieben Siegeln."

    Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es zunehmend Kritik am Aderlass. Gelehrte wie Rudolf Virchow, Emil Du Bois-Reymond und Louis Pasteur etablierten eine naturwissenschaftliche, evidenzbasierte Denkweise.

    "Diese Leute haben auf alte Heilmethoden wie die Vier-Säfte-Theorie eigentlich nur herabgeschaut. Die haben darüber gelacht und sie verspottet und dazu zählte eben auch der Aderlass. Das passte einfach nicht mehr in die neue Pathologie eines Virchow, in die Zellularpathologie, die dann ja auch zunehmend nahtlos in die heutige Molekularbiologie führte."

    Und ein kritischer Blick auf den Aderlass und das dahinterstehende Theoriegebäude war durchaus angebracht.

    "Wenn jemand sterbenskrank war und der Arzt kam und hat noch einen Aderlass gemacht hat, dann dürfte das den Prozess des Sterbens eher beschleunigt haben als verlangsamt haben."

    Allerdings stellte man vor einigen Jahrzehnten fest: Ein hoher Blutverlust, beispielsweise nach einem Unfall, führt beim Menschen dazu, dass die Zahl an weißen Blutkörperchen und Monocyten in seinem Körper stark zunimmt. Dadurch wird das Immunsystem des Organismus gestärkt.

    "So ganz sinnlos wie das lange betrachtet und belächelt wurde, war der Aderlass nicht. Er konnte auch dosiert durchgeführt tatsächlich eine Roborierung des Körpers hervorrufen."

    Dazu kommt nach Ansicht des Medizinhistorikers ein psychologischer Effekt.

    "Ein Vorteil natürlich war sicher auch das Urvertrauen, das Patienten und Ärzte in diese Technik hatten. Beide waren absolut davon überzeugt – es war ja auch die Tradition von Jahrtausenden –, dass das was bringen musste und zwar was Positives bringen musste."

    Dass der Aderlass in vielen Fällen hilfreich war, davon ist auch Dr. Thomas Rampp überzeugt, Leiter des Instituts für Naturheilkunde und Traditionelle Chinesische und Indische Medizin an den Kliniken Essen-Mitte.

    "Sonst hätte er sich auch nicht über eine so lange Zeit als Heilmittel gehalten."

    Ohne Frage war die Therapie bei sehr erschöpften Patienten, bei Blutarmut oder Gerinnungsstörungen nutzlos oder sogar gefährlich. Bei Bluthochdruck, Ekzemen oder Gicht habe der Aderlass den Menschen dagegen vermutlich geholfen, so Rampp. In den 1980er Jahren wurden erstmals wieder klinische Daten erhoben. Die zeigten, dass Aderlass tatsächlich positiv bei hohem Blutdruck wirkt.

    "Und zwar in einer Effektivität, die in etwa zwei blutdrucksenkenden Medikamenten entspricht, also eine sehr effektive Methode, und auch über einen längeren Zeitraum wirkt. Muss zwar dann wiederholt werden, aber das war so das erste Indiz, dass Aderlass in die innere Medizin wieder Einzug findet."

    Inzwischen gibt es Studien, die darauf hinweisen, dass Aderlass auch bei Fettstoffwechselstörungen, erhöhtem Hämatokrit sowie erhöhten Harnsäure- und Blutzuckerwerten Abhilfe schafft. Die moderne wissenschaftliche Erklärung für die Wirksamkeit der Methode:

    "Es werden bestimmte Stoffe dem Körper entzogen und durch weniger gefährliche Stoffe ersetzt, die dann aus der Zelle oder aus dem Interzellularraum stammen. Und hierdurch kommt es quasi zu einem Verdünnungseffekt eventueller Stoffe, die dem Körper schaden, und das führt dann auch wiederum zu weniger Stress im Stoffwechsel und zu einer besseren peripheren Durchblutung."

    Im Mai 2012 haben Rampp und seine Institutskollegen eine Studie zu Aderlass im Fachmagazin BMC Medicine veröffentlicht.

    "Da ging es um das Krankheitsbild des Metabolischen Syndroms. Das sind Patienten mit hohem Blutdruck, mit Fettstoffwechselstörungen, mit Übergewicht und Diabetes. Und da hat man gesehen, dass sich all diese Parameter durch zweimaligen Aderlass im Abstand von sechs Wochen deutlich gebessert haben."

    An Rampps Institut gehört Aderlass inzwischen zum festen Repertoire. Alle sechs Wochen werden dabei 300 bis 500 Milliliter Blut pro Patient abgenommen. Ob ein Aderlass durchgeführt wird und mit welchem Volumen, entscheiden die Ärzte nach gründlicher Untersuchung, anhand des Blutbildes und der Ferritinwerte: Je voller der Eisenspeicher des Körpers, desto mehr Blut wird abgelassen. Auf der Seite der Patienten sei das Verfahren voll akzeptiert:

    "Die empfinden das quasi als Naturheilverfahren. Es werden keine Fremdstoffe in den Körper hineingegeben, sondern lediglich ein Zuviel an körpereigenen Stoffen entfernt. Das verstehen die sehr gut."

    Auf der Seite der Ärzteschaft liegen die Verhältnisse anders.

    "In der internistischen Community ist der Aderlass noch nicht ganz angekommen."

    Die wissenschaftliche Datenlage habe sich noch nicht herumgesprochen, vermutet Rampp.

    "Vielleicht ist es auch aus der Historie, dass diese Verfahren ja noch mit dem Makel der Mittelalterlichkeit behaftet sind und die Kollegen sich deshalb scheuen, so was in einer modernen Praxis eben durchzuführen."

    Bislang ist Aderlass nicht Teil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung; Patienten müssen ihn aus eigener Tasche bezahlen. Oberarzt Rampp sagt der Therapie dennoch eine große Zukunft voraus.

    "Es gibt Daten, dass ein Drittel der Bevölkerung auf ein metabolisches Syndrom zusteuert. Und da ist es natürlich wichtig, dass wir nebenwirkungsarme, kosteneffektive und natürlich auch therapeutisch effektive Verfahren einsetzen, und da gehört der Aderlass mit Sicherheit dazu. Und es wird in Zukunft kaum noch internistische Praxen geben, wo der Aderlass nicht auch zum Repertoire des Arztes gehören wird."