Freitag, 19. April 2024

Archiv


Radiolexikon Gesundheit: Zwangsjacke

Die meisten kennen die Zwangsjacke wohl aus Filmen. Im psychiatrischen Alltag wird sie aber so gut wie gar nicht mehr verwendet. Gilt ihr Einsatz heute weitgehend als inhuman, hatte der Erfinder der Zwangsjacke einst tatsächlich eine menschenwürdigere Behandlung im Sinn.

Von Andrea Westhoff | 05.11.2013
    Die Zwangsjacke ist für viele bis heute ein Symbol für die Schreckensvision der Psychiatrie, natürlich auch geprägt durch Hollywoodfilme wie "Einer flog übers Kuckucksnest". Tatsächlich kommt sie gar nicht mehr vor, sagt Professor Andreas Heinz, der die Psychiatrische Klinik an der Charité in Berlin-Mitte leitet:

    "Zwangsjacken gibt es zum Glück nicht mehr, es gibt Zwangsmaßnahmen, und man kann die natürlich häufig durch entsprechende Einrichtung einer Patientenorientierung minimieren, aber sie gibt es im Einzelfall noch."

    Die Zwangsjacke ist also nur noch ein wichtiger Gegenstand der Psychiatriehistorie, mit der sich Dr. Rainer Herrn vom Institut für Geschichte der Medizin an der Charité beschäftigt. Denn psychisch Kranke wurden jahrhundertelang vor allem als wild und gefährlich wahrgenommen:

    "Die Zwangsjacke gehört eigentlich in ein großes Arsenal von heroischen Anwendungen. 'Heroisch' kommt so von diesem Größenwahn, die psychisch Kranken bändigen zu können, und die Zwangsjacke entsteht vor allem für Patienten, die sogenannt tobsüchtig gewesen sind und bei denen die Gefahr der Selbst- oder Fremdbeschädigung bestand."

    Erfunden wurde die Zwangsjacke Anfang des 19. Jahrhunderts von Benjamin Rush, einem der Väter der amerikanischen Psychiatrie. Er war Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und ein Verfechter der Menschenrechtsidee. Und genau genommen stellte die Zwangsjacke wirklich einen humanitären Fortschritt dar, denn bis dato wurde, wer nicht "normal" war, also nicht den gängigen Normen entsprach, vor allem eingesperrt oder sogar angekettet:

    "Rush war ein Psychiater, der von der Therapierbarkeit der Krankheit ausging, er hat also versucht, mit ihnen umzugehen, zuvor wurden sie sozusagen verwahrt in den Anstalten. Und meist, in Berlin beispielsweise an der Charité, zusammen mit den krätzigen Patienten, das waren also Patienten, die, wenn überhaupt als Patienten bezeichnet, hoffnungslos gewesen sind."

    Neben der Zwangsjacke für die sogenannten Tobsüchtigen sowie stunden- oder sogar tagelangen Wannenbädern und Ganzkörperwickeln gab es noch weitere mechanische Behandlungsmethoden.

    "Beispielsweise das Verbringen in sogenannte Isolierzellen, die es auch noch bis weit ins 20. Jahrhundert gegeben hat, andere Therapien, die in das frühe 19. Jahrhundert gehören, sind das Drehbett oder Drehstuhl, wo die Patienten um die eigene Achse gedreht wurden mit der Vorstellung, dass dann das Blut in den Kopf steigt und dadurch die Patienten sozusagen zur Vernunft gebracht werden, weil der Wahnsinn ist ja, etwas außer sich zu sein – das ist die Vorstellung – und so kommen sie wieder in sich."

    Das Wissen über psychische Krankheiten hat sich erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts langsam entwickelt, durch Freud und andere Neurologen. An Psychopharmaka oder ausgefeilte psychotherapeutische Konzepte war noch gar nicht zu denken.

    "Einen großen Schnitt gibt es mit diesen ganzen Zwangsmaßnahmen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Und dort ist Wilhelm Griesinger wohl die zentrale Figur, der das sogenannte non-restraint, also das Entlassen der Patienten aus diesen Zwangsmaßnahmen, eingeführt hat und allgemein Verbreitung gefunden hat."

    Keine körperliche Gewalt mehr in der Therapie psychisch Kranker – aber diese Idee Griesingers, geriet nach dem ersten Weltkrieg in Vergessenheit. Die Psychiatrie setzte wieder auf die Zwangsjacke und neue gewaltsame Maßnahmen wie zum Beispiel Elektrokrampftherapie, Insulinschocktherapie und ähnliches. Und in der NS-Zeit schließlich brach die völlige Barbarei im Umgang mit psychisch Kranken durch. Die Zwangsjacke – nicht als therapeutisches sondern als mechanisches Hilfsmittel – gab es noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Erst mit der "zweiten Psychiatrie-Reform" verschwindet sie dann endgültig, erzählt Dr. Rainer Herrn vom medizinhistorischen Institut der Charité:

    "Das geht wesentlich auch von der antipsychiatrischen Bewegung unter anderem aus, die in Italien ihren Ausgangspunkt genommen hat, aber in Deutschland eine ganz breite Entwicklung entfaltet hat, das geht um die Öffnung der Kliniken dabei, es geht um die Verkürzung der Aufenthaltsdauer, also erst in den 60er-, 70er-Jahren werden auch diese letzten Formen von Zwangsbehandlungen abgeschafft. Gleichwohl gibt es bis heute immer auch noch Maßnahmen, wo es nötig ist, Patienten zu fixieren, bei denen die Gefahr der Selbst- oder Fremdbeschädigung bestand."

    Welche Situationen das sein können, wird immer wieder heftig diskutiert, sagt Andreas Heinz:

    "Wenn jemand ein Alkoholentzugsdelir hat und ist von seinem Bewusstsein her eingetrübt, ist verwirrt, weiß nicht, wo er ist, und warum er zum Beispiel Infusionen bekommt und zieht sich die raus, dann wird auf fast jeder deutschen Intensivstation natürlich der Mensch fixiert, und ich hab zumindest in meiner Zeit außerhalb der Psychiatrie erlebt, dass da fast gar keine rechtlichen Bedenken kamen, weil man immer das Gefühl hat, man handelt ja in Gefahr im Verzug, im Interesse des Patienten."

    Denn ein Delirium ohne Therapie, in dem Fall ohne Infusionen, ist für den Patienten lebensbedrohlich. Solche klassischen Delirzustände gibt es in der Psychiatrie auch, aber meistens ist die Situation dort komplizierter.

    "Situationen, in denen jemand zum Beispiel – haben wir erlebt – sah, dass Dämonen in Mitmenschen hineinsteigen und die dann verändern, dann hat er sich dagegen gewehrt, hat dabei zum Beispiel eine meiner Ärztinnen so krankenhausreif geschlagen, dass die mehrere Operationen brauchte, hinterher den Beruf quittiert hat, und in so einer Situation kann es notwendig sein, dass man ihn selbst und auch die Mitmenschen vor der Gewalt im Augenblick schützen muss."

    Alle psychiatrischen Zwangsmaßnahmen sind heute aber gesetzlich geregelt: Die Krankheit muss klar diagnostiziert, die Selbst- oder Fremdgefährdung nachgewiesenermaßen erheblich sein, und vor allem muss jede Zwangsbehandlung umgehend einem Richter vorgelegt werden, der – schnellstmöglich – darüber entscheidet. Faktisch kommt es heute jedoch nur noch selten zu derartigen Eskalationen und entsprechenden Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie:

    "Bei uns ist es so, dass wir beispielsweise bei 800 Patenten im letzten Jahr ungefähr ein Prozent, also acht Menschen hatten, bei denen eine Zwangsmaßnahme notwendig war",

    sagt der Leiter der psychiatrischen Klinik der Charité in Berlin-Mitte, Andreas Heinz. Denn:

    "Man kann sehr viele Zwangsmaßnahmen im Vorfeld verhindern, indem man zum Beispiel die Stationen, auch die Akutstationen, öffnet oder weitgehend öffnet, sodass die Leute sich nicht eingesperrt fühlen. Dass man mit ihnen von Anfang an spricht. Viele, auch wenn sie gebracht werden von der Feuerwehr oder Polizei, merken ja doch, dass es ihnen nicht gut geht. Und sobald der Charakter des Wegsperrens oder Wegschließens entfällt, trauen sie sich eher zu bleiben."

    Weniger Bedrängnis, weniger Zwang für psychisch kranke Menschen – das ist eine Maxime der modernen Psychiatrie, allerdings, fügt Professor Heinz gleich hinzu, sei das auch eine Frage der Gesundheitspolitik:

    "Man braucht aber für so offene Konzepte hinreichend Personal. Man braucht Menschen, die mit den Patienten reden, man muss versuchen, den Menschen zu beruhigen und entsprechend die Situation zu deeskalieren."