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Radiolexikon Hörsturz

Bei einem akuten Hörsturz heißt es schnell handeln, andernfalls droht ein dauerhafter Hörschaden. Spezielle Vorbeugemaßnahmen gegen einen Hörsturz gibt es dagegen nicht. Trotzdem werden immer wieder Entspannungsverfahren wie Autogenes Training empfohlen. Denn auffällig bleibt, dass der Hörsturz eine Krankheit ist, die häufig diejenigen trifft, die besonders "viel um die Ohren" haben.

Von Andrea Westhoff | 30.09.2008
    "Ich musste in den letzten Tagen die sicherlich schwierigste Entscheidung meines Lebens treffen, nämlich die, auf dringenden ärztlichen Rat den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands niederzulegen."

    Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch: Im April 2006 erklärte der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck nach nur fünf Monaten Amtszeit seinen Rücktritt als SPD-Vorsitzender. Er sorgte damit nicht nur für reichlich politischen Gesprächsstoff, sondern brachte so auch eine Krankheit ins öffentliche Bewusstsein.

    "Es gab einen ersten Hörsturz, ich habe ihn nicht ernst genommen. Ich habe am 11. Februar, am Nachmittag einen Kreislauf- und Nervenzusammenbruch gehabt, ich habe den Ratschlägen meiner Ärzte seinerzeit nicht Folge geleistet, habe am 29. März einen nächsten Hörsturz erlitten."

    Hörsturz nennt man den plötzlichen, kompletten oder teilweisen Verlust des Hörvermögens, in der Regel auf einem Ohr, oft mit Ohrgeräuschen oder Schwindelgefühl einhergehend.

    Zu den Betroffenen gehört auch der Sänger und Komponist Phil Collins. In einem "Zeit"-Artikel beschreibt er das so:

    "Ich war damals in den USA zu Aufnahmen und hatte den Tag über im Studio gesungen. Dann holte ich meine Tochter von der Schule ab. Wir kamen nach Hause, aßen etwas, spielten ein Videospiel. Dann machte es pfffhhhhh. Von einem Moment zum anderen war mein linkes Ohr zu. Als wäre ich unter Wasser gewesen. Ich versuchte, es durch Druckausgleich wieder freizubekommen. Aber das nützte nichts. Ich dachte: Es wird schon wieder werden. Wurde es aber nicht."

    Der Hörsturz ist durch Prominente in den letzten Jahren allgemein bekannter geworden. Aber er ist keine neue Erkrankung - und keine seltene: Schätzungsweise 250.000 Menschen erleiden ihn in Deutschland pro Jahr, am häufigsten zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr, allerdings steigt der Anteil der 30- bis 40-jährigen stetig.

    Woher kommt solch ein plötzlicher Hörverlust?

    "Letztendlich geht man davon aus, dass es sich um eine Durchblutungsstörung handelt im Innenohr, die in der Regel multifaktoriell bedingt ist,"

    erklärt Dr. Birgit Mazurek, Spezialistin für Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen an der Charité. Eine der Ursache können Störungen in der Halswirbelsäule sein.

    "Die Gefäße, die das Ohr versorgen, ziehen durch Knochenlöcher in der Wirbelsäule zum Ohr. Und demzufolge, wenn dort Verspannungen sind, Blockierungen oder starke Abnutzungen, kann das die Durchblutung verringern.
    Als weitere Mit-Ursache für die Durchblutungsstörung im Innenohr und damit den Hörsturz kommt ein zu hoher Cholesterinspiegel in Frage, der die Blutgefäße verengt,

    "Es gibt auch noch sehr seltene Fälle, dass zum Beispiel auch mal ein Tumor dahinter stecken kann, auch das muss man abchecken, es können auch Infektionskrankheiten zu einem Hörsturz führen, wie zum Beispiel die Borreliose, ein Zeckenbiss, ja, aber das sind wirklich seltene Formen."

    Und Stress? Wird der nicht gemeinhin als Hauptursache für Hörsturz angenommen?

    "Ich würde schon bei den Ursachen eher sagen, dass es multifaktoriell ist. Wenn man so das Patientenklientel sich anschaut, findet man schon so Peaks, wo Hörstürze auftreten. Das ist häufig so 35. - 40. Lebensjahr wo man dann einfach vielleicht so ein bisschen "viel um die Ohren hat", im sprichwörtlichen Sinne, ja, aber dann gibt es sehr häufig auch Hörstürze so um 55, also dort, wo die Ressourcen schon ein bisschen nachlassen. Stress spielt dort eine Mitursache, aber es ist, wie gesagt, nie die alleinige Ursache."

    Lärm hingegen ist keine Ursache für einen Hörsturz. Er kann zwar auch zu einer plötzlichen Schwerhörigkeit oder Taubheit führen, aber, betont Birgit Mazurek:

    "Wenn eine extreme Lärmeinwirkung passiert ist, ist es eher ein Lärmtrauma. Ein Hörsturz kommt von alleine. Also ohne eine externe Ursache, das ist der Unterschied."

    Wer einen echten Hörsturz - also ganz plötzlich und ohne äußere Ursache - erleidet, der sollte ebenso plötzlich reagieren.

    "Bei einem Hörsturz sollte man zügig handeln, ist medizinisch ein Eilfall, das heißt je schneller Sie sich zu einem Arzt hinbegeben, um so sicherer ist es für Sie,"

    mahnt die HNO-Ärztin. Dennoch sollte bei aller Eile am Anfang eine genaue Diagnose der Funktionsstörung im Innenohr stehen...


    "Zur Diagnostik würde man auf jeden Fall eine Hörtestung machen, und zwar da vor allem erstmal ein Tonschwellenaudiogramm, dass man sieht, wie hört der Patient über die Frequenzen, dass man auch schaut, wie ist die Belüftung des Ohres, wie ist das Sprachverstehen. Und man kann dann auch noch spezielle Untersuchungen, dass man die Haarzellen gezielt untersucht. Und es sollte dann als Diagnostikbaustein im Verlauf auch noch eine Hörnervuntersuchung stattfinden, aber die erst nach sechs Wochen."

    Die Therapie sollte allerdings umgehend beginnen, andernfalls droht ein dauerhafter Hörschaden. In mehr als der Hälfte der Fälle bessert sich ein Hörsturz zwar auch ohne Behandlung innerhalb von 24 Stunden - aber man weiß ja nicht, ob man zu dieser Hälfte gehört.

    "Therapeutisch würde man in der Regel mit einer durchblutungsfördernden Therapie einsetzen in Form von Infusionen, man kann auch Medikamente dafür nehmen, häufig, wenn ein Hörsturz sehr stark ist, sollte man auch Cortison dazu geben."

    Birgit Mazurek hat vor ein paar Jahren an der Charité auch die so genannte "H.E.L.P.-Apherese" in einer Studie untersucht...

    "Die H.E.L.P.-Apherese bedeutet im Prinzip, dass das Blut, wie in einem Dialyseverfahren, raus genommen wird, gewaschen wird, und dass das schlechte Blutfett, ja, also das LDL, das Fibrinogen, das Lipoprotein A, raus genommen wird. Und dann wird das Blut wieder über Schläuche in den Körper hineingeleitet. Das Ganze läuft über Heparin, damit das Blut nicht gerinnt, man muss aber sagen, dass das beim Hörsturz nur dann indiziert ist, wenn hohe Blutfettwerte sind."

    Die H.E.L.P.-Apherese ist also, anders als oft zu lesen, keine allgemeine Hörsturz-Therapie!

    Dr. Mazurek leitet auch das Tinnituszentrum an der Charité und ist deshalb bestens geeignet, etwas zu einer immer wieder gestellten Frage zu sagen: Ist Tinnitus eine Folge von unbehandeltem oder zu spät behandeltem Hörsturz?

    "Tinnitus tritt sehr häufig beim Hörsturz mit auf. Das ist ein mit-Symptom. Nicht alle Hörstürze habe Ohrgeräusche, aber vielleicht, sag ich mal so, zwei Drittel. So dass das nicht eine Folgeerkrankung ist, sondern wirklich als Symptom bei einem Hörsturz auftreten kann. Was allerdings im therapeutischen Verlauf dann zu sehen ist, dass häufig sich das Hörvermögen doch wieder erholen kann bei einer schnell eingesetzten Therapie, aber das Ohrgeräusch bleibt häufiger einfach bestehen."

    Spezielle Vorbeugemaßnahmen gegen einen Hörsturz gibt es nicht. Trotzdem werden immer wieder die klassischen Entspannungsverfahren wie Autogenes Training oder Stressmanagement-Kurse empfohlen. Denn auffällig bleibt, dass der Hörsturz eine Krankheit ist, die häufig diejenigen trifft, die besonders "viel um die Ohren" haben, was offenbar nichts "Ehrenrühriges" ist heutzutage, "outen" sich doch viele Prominente als Betroffene: Politiker wie Matthias Platzeck, Helmut Schmidt, Hans- Dietrich Genscher, oder Künstler wie Hape Kerkeling und Phil Collins, der in dem erwähnten "Zeit"-Artikel aus seinem Hörsturz sogar ein Stück Lebensweisheit ziehen mochte:

    "Obwohl ich nicht gerade ein tief religiöser Mensch bin, kommt es mir vor, als hätte Gott - wer immer das ist - mir eine Ohrfeige gegeben und gesagt: "Wirst du endlich mal auf die Bremse treten? Nimm dies als Warnung, und lass die Dinge endlich langsamer angehen"."