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Hysterie

Im Mittelalter galt Hysterie als Zeichen teuflischer Besessenheit. Später wurde sie, besonders von Sigmund Freud, als körperlicher Ausdruck verdrängter weiblicher Wünsche gedeutet. Heute bezeichnet Hysterie eine "dissoziative Störung", eine Art Zerfall der Persönlichkeit.

Von Andrea Westhoff | 26.02.2013
    Besucher gehen am Dienstag (11.04.2006) in Berlin durch die Ausstellung, die das Jüdische Museum anlässlich des 150. Geburtstages von Sigmund Freud zeigt. Zu sehen ist ein interaktives Labyrinth psychoanalytischer Grundbegriffe.
    Hysterie: dissoziative Störung, keine Besessenheit. (picture-alliance/ dpa/dpaweb / Steffen Kugler)
    Kreischende Teenager beim Beatles-Konzert, Mädchen vor allem, die wie wild
    zucken, schluchzen, manchmal sogar ohnmächtig zusammenbrechen – So etwas fällt bis heute vielen zum Thema Hysterie ein.

    Vom medizinhistorischen Kern ist das gar nicht so weit entfernt. Schon in alten ägyptischen Papyri und bei antiken Autoren werden unter dem Begriff extreme Gefühlsausbrüche beschrieben, meist einhergehend mit Krampfanfällen, Lähmungen oder anderen körperlichen Beschwerden. Und alles wurde unmittelbar mit der Weiblichkeit in Verbindung gebracht.

    "Im Begriff der Hysterie steckt ja Histera, die Gebärmutter, drin."

    In früheren Zeiten gab es zwei Erklärungen für das Außersichgeraten von Frauen, sagt der Medizinhistoriker Professor Volker Hess von der Berliner Charité. Die eine steht im Zusammenhang mit der antiken Säftelehre. Offenbar, so glaubte man, bedarf das Blut bei Frauen immer wieder der Reinigung durch die monatliche Regelblutung.

    "Und wenn diese Regelblutung ausbleibt und keine Schwangerschaft eintritt, dann richtet diese Materie, die nicht ausgeschieden wurde, irgendwo Unheil an. Und wenn sie sich an den falschen Stellen ablagert, dann werden die Betroffenen eben etwas merkwürdig.

    Die zweite historische Bedeutung ist dann die Verlagerung der Gebärmutter, die als funktioneller Teil des menschlichen Organismus im Körper zirkuliert, kreist, woanders sitzt und auch dazu führt, dass sich die mentale Beschaffenheit der betroffenen Frauen ändert.""

    Dahinter steckte die Vorstellung, dass eine Frau krank wird, wenn sie ihrer "natürlichen Aufgabe" als Mutter nicht nachkommt. Für Männer, bei denen die Säfte durcheinandergeraten waren und die deshalb ihre Gefühle nicht im Zaum halten konnten, gab es übrigens in der Antike auch schon einen Krankheitsbegriff:

    ""Da nennt sich das Ganze dann Spleen, von der Splen, von der Milz, und bei den Frauen ist es eben die Gebärmutter."

    Im Mittelalter galt die Hysterie als Zeichen teuflischer Besessenheit, was viele Frauen das Leben kostete. Im medizinischen Denken spielte sie ansonsten kaum eine Rolle. Das änderte sich erst, als im 19. Jahrhundert besonders viele "ekstatische Frauen" auftauchten, die an Zuckungen, Ohnmachtsanfällen oder unerklärlichen Schmerzen litten oder über zeitweilige Blind- oder Taubheit klagten.

    Das Phänomen hat der französische Neurologe Jean-Martin Charcot als Erster intensiv studiert. Er führte seine hysterischen Patientinnen öffentlich vor und demonstrierte an ihnen die aberwitzigsten, martialischen Behandlungsmethoden wie zum Beispiel eine "Ovarienpresse" oder Vibratoren "zur Beruhigung".

    Als Ursache der Hysterie vermuteten Ärzte zu dieser Zeit die neue Rolle der Frauen, die sich ihrer Weiblichkeit bewusst werden, sie aber nicht ausleben können. Die Krankheit galt als körperlicher Ausdruck verdrängter oder unterdrückter Wünsche, vor allem sexueller Art – was Sigmund Freud besonders interessierte:

    "Freud war in Paris, bei Charcot in der Klinik und hat diese Demonstrationen der hysterischen Frauen natürlich gesehen, und geht mit diesem Konzept in das viktorianische, verklemmte Wien zurück, und das ist naheliegend, natürlich wird aus diesem sexualisierten Konzept der Hysterie eine Initialzündung für die Psychoanalyse."

    Während Neurologen die Hysterie noch als Erkrankung des Gehirns ansahen, betrachtete Freud sie als "neurotische Störung", also als rein seelisches Leiden, ohne körperliche Auslöser. Und er hatte, wie zuvor schon Charcot, erkannt, dass es sich nicht ausschließlich um ein Frauenleiden handelt:

    "Im frühen 20. Jahrhundert ist Hysterie auch etwas, was Männer haben können. Dass die Männlichkeit dieser Männer dabei leidet, steht auf einem anderen Blatt. Also sie ist verbunden mit bestimmten geschlechtlichen Zuschreibungen, es sind auch die "Memmen" im Krieg beispielsweise, die Feigheit vor dem Feind als weibliches Verhalten zeigen, die dann hysterisch sind."

    Gelegentlich bekommt die Hysterie nun die Bezeichnung "Konversionsneurose", bei der nicht nur Wünsche, sondern allgemein seelische Verletzungen oder Konflikte in körperliche Symptome umgewandelt werden. Gleichzeitig wird sie aber auch zum Synonym für eingebildete Krankheiten, weil man keine Ursache für die starken körperliche Symptome findet. Jedenfalls eröffnet sie ein neues Forschungsfeld für Psychiater, sagt der Medizinhistoriker Professor Hess.

    "In dem Moment, in dem sie mehr Kranke sehen, die jetzt nicht bloß im "Asyl" eingekerkert sitzen, sondern die kommen mit Nervenlähmungen, weil sie nichts sehen, weil sie Anfälle haben und so weiter, und ein ganzer Teil dieser neuen Beobachtungen oder Phänomene wird dann in diese Schachtel der Hysterie eingeordnet, und damit erhält die Schachtel auch eine neue Bedeutung."

    Mitte des 20. Jahrhunderts dann wird der Begriff "Hysterie" durch zwei neue Namen ersetzt, um Diskriminierung zu vermeiden. Der eine ist die "histrionische Persönlichkeitsstörung" – "histrio" bedeutet im Lateinischen "Schauspieler":

    "Also eine gewisse Tendenz zur Dramatisierung oder Inszenierung von Konflikten, das unterstellt aber sehr viel Lust am Dramatisieren, und das hat wieder negativen Beiklang."

    Deshalb bevorzugt Professor Andreas Heinz, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Charité, die zweite Bezeichnung: "dissoziative Störung", eine Art Zerfall der Persönlichkeit.

    "Das heißt, dass Menschen tatsächlich häufig nach traumatischen Erlebnissen in eine Art Umnachtung fallen, wenn man das mal allgemein verständlich ausdrücken will, und darin drückt sich ein Teil des alten Konzepts aus, dass man dann eben nicht akzeptable Gedächtnisinhalte ins Bewusstsein bekommt, aber um den Preis der Spaltung."

    Die Betroffenen können durchaus auffällig sein, viele sind "exaltiert", sie wechseln schnell zwischen unterschiedlichen Gefühlslagen, manche präsentieren sich sogar als komplett verschiedene Persönlichkeiten. Die klassischen körperlichen Symptome aber treten heute nicht mehr auf. Ist die "dissoziative Störung" also wirklich nur ein neuer Name für Hysterie oder hat sich das ganze Krankheitsbild verändert?

    "Das interessante ist, dass die Ausdrucksformen des eigenen Leidens offenbar doch zeitabhängig sich verändern. Das heißt, wir sehen heute in den Kliniken und auch in den Praxen kaum noch Menschen mit klassischen hysterischen Symptomen wie einer plötzlichen Bein- oder Sprachlähmung oder etwas ähnlichem, wir sehen das manchmal noch bei sehr alten Patienten, ich hab das selber erlebt, es gibt auch interessante Beschreibungen, wie das in anderen Ländern, die mehr oder weniger verwestlicht sind, zu- oder abnimmt. Es werden offenbar doch, ich denke unbewusst, aber nachdrücklich Symptome gewählt, die in der jeweiligen Gesellschaft tatsächlich als Ausdruck des Leidens akzeptiert werden."

    Für Professor Heinz ist Hysterie Zeichen für tiefe seelische Verletztheit. Die umgangssprachliche Verwendung des Begriffes "hysterisch" findet der Psychiater deshalb auch unangemessen, während der Medizinhistoriker Professor Volker Hess darin doch noch Spuren der alten Hysterievorstellung entdecken kann. Zum Beispiel, wenn pubertierende Fans von Popstars kreischen, weinen, in Ohnmacht fallen oder ihre Unterwäsche auf die Bühne werfen.

    "Also es beschreibt eine gewisse übersteigerte Verhaltensweise von jungen Mädchen, jungen Frauen – deutlich stärker sexualisiert – aber auch junge Männer können hysterisch werden."

    Doch so ein Verhalten gilt heute nicht mehr als "krankhaft" – jedenfalls medizinisch gesehen.

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