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Radiolexikon: Kinderlähmung

Die Kinderlähmung gilt seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland und in Europa als ausgerottet. Dennoch sollte man die Virus-Krankheit nicht unterschätzen und die Impfung nicht vernachlässigen.

Von Andrea Westhoff | 30.03.2010
    Manch einer erinnert sich vielleicht noch an diese Fernsehspots: Ein fröhliches Kind beim Spielen

    Zitat aus einem Werbespot für Schluckimpfung:

    "Quält Sie auch manchmal der Gedanke, irgendetwas könnte dazwischen kommen? Kinderlähmung ist grausam - Schluckimpfung ist süß!"

    Die Kinderlähmung – medizinisch: Poliomyelitis, kurz Polio – ist eine Infektionskrankheit, die vor allem, aber nicht nur Kinder trifft. Sie beginnt wie eine Grippe mit Fieber und Gliederschmerzen, kann sich aber ganz dramatisch entwickeln, erklärt der Neurologe Dr. Manfred Tesch:

    "Die Polioerreger, die treffen das Rückenmark, ein Bereich der Zellen, die die Muskeln ansteuern, und beim einen ist die Hand schwach, beim andern beide Beine und beim dritten beide Arme, also sehr bedrohlich ist insbesondere, wenn die Atemmuskulatur betroffen ist oder war, dann kann es zum Atemstillstand und zum Erstricken kommen, früher, das waren dann diese ersten ganz spektakulären Fälle, die in der eisernen Lunge landeten, es kann auch Schluckstörungen geben, aber das häufigste sind eben diese asymmetrischen Störungen der Skelettmuskulatur, dass neben dem Fieber dann plötzlich Lähmungen aufgetreten sind, oft ist es beides."

    In den 60er-Jahren hingen in vielen deutschen Kindergärten und Schulen Hinweistafeln: "Nach dem Klo und vor dem Essen, Händewaschen nicht vergessen!" Auch das hatte mit der Kinderlähmung zu tun, denn Polioerreger sind Viren, die "fäkal-oral" von Mensch zu Mensch übertragen werden, das heißt durch mangelnde Hygiene – oder verschmutztes Trinkwasser. Bei den meisten Infizierten wird das Immunsystem mit den Erregern aber fast unbemerkt fertig:

    "Es war zwar sehr ansteckend, aber die meisten haben’s nicht gekriegt. Also von 100, die Kontakt hatten, haben zehn die Krankheit bekommen und einer bekam eine Lähmung."

    Manfred Tesch spricht in der Vergangenheitsform, denn die Kinderlähmung ist hierzulande und in Europa inzwischen ausgerottet. Ende des 19. Jahrhunderts war diese schon uralte Krankheit plötzlich in großen Epidemien aufgetreten. Zu den prominentesten Betroffenen zählte der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der auch die Bemühungen um einen Impfstoff tatkräftig unterstützte. Den fand Mitte der 50er-Jahre der amerikanische Forscher Jonas Salk; und etwas später entwickelte sein Kollege Albert Sabin einen Lebendimpfstoff, den man auf einem Stückchen Zucker einfach schlucken konnte. Damit begann eine beispiellose Erfolgsstory, sagt Dr. Sabine Reiter von der Abteilung "Impfprävention" am Robert-Koch- Institut (in Berlin):

    "Kurz vor Einführung der Schluckimpfung 1961 gab’s bei uns noch fast 5000 Fälle an Kinderlähmung pro Jahr, und dann haben die Gesundheitsämter innerhalb von vier Wochen die ganze Bundesrepublik durchimmunisiert, und dann ging die Zahl ganz drastisch zurück, der letzte Wildvirusfall trat 1990 bei uns auf, 1992 gab es dann noch zwei Fälle, die eingeschleppt wurde."

    Die Polio-Impfung wurde so gut akzeptiert, weil Eltern die Folgen der Erkrankung unmittelbar vor Augen hatten. Dennoch gab es auch Diskussionen und tatsächlich ein paar tragische Impffolgen:

    "Jedes Jahr traten ein bis vier Fälle auf an Kinderlähmung, die durch die Impfung verursacht waren. Das kann in ganz seltenen Fällen bei einem Lebendimpfstoff, wie das bei der Schluckimpfung war, passieren, und die ständige Impfkommission hat dann damals gesagt, es ist nicht länger hinnehmbar, dass das Risiko durch die Impfung größer ist als durch die Erkrankung, die ja durch die Impfung zurückgedrängt wurde, und man hat sich dann 2002 entschlossen, die Schluckimpfung aufzugeben und auf den Totimpfstoff umzustellen."

    Der wird wieder klassisch gespritzt, und diese Impfung ist auch weiterhin nötig. Denn das Ziel einer "Poliofreien Welt", das die WHO 1988 formuliert hat, konnte bislang nicht erreicht werden. Vor allem in Indien, Pakistan, Afghanistan und Nigeria kommt die Kinderlähmung noch häufig vor und kann so auch hier jederzeit wieder eingeschleppt werden. <in holland="" etwa="" erkrankten="" in="" den="" 90er="" jahren="" 71="" menschen,="" die="" eine="" impfung="" aus="" religiösen="" gründen="" abgelehnt="" hatten.="">

    "Es soll möglichst früh mit der Impfung begonnen werden, ab dem 3. Lebensmonat, und da gibt es fünf- und sechsfach Kombinationsimpfstoffe, da ist der Polio-Totimpfstoff auch enthalten, es muss viermal zur Grundimmunisierung geimpft werden und dann wird empfohlen, alle Kinder und Jugendlichen im Alter von 9 bis 18 Jahren nochmal aufzufrischen. Dann muss nicht mehr alle zehn Jahre geimpft werden, es sei denn, man fährt in Länder, wo die Polio noch häufig vorkommt."

    Ganz vergessen kann man die Kinderlähmung also nicht, und dafür gibt es noch einen weiteren Grund: das Post-Polio-Syndrom, das etwas anderes ist als die bleibenden Schäden nach der akuten Erkrankung. Dr. Manfred Tesch von der Schlossparkklinik in Berlin hat sich auf PPS spezialisiert:

    "Nach 10, 20, 30 Jahren treten so ein paar Symptome auf: Es gibt also Schmerzen, eher so diffuse, eher so mittelstarke Schmerzen, es gibt so einen langsame Abnahme der Kraft, man kommt die Treppe nicht mehr so hoch, dann werden die Muskeln so sichtbar ein bisschen dünner, all das geht nicht schnell, das geht über Jahre so allmählich und auch wenn man das dem Arzt zeigen will, kann man das nicht richtig demonstrieren, aber man merkt, es verändert sich was."

    Das sind zwar sehr unspezifische Symptome, wie sie bei vielen neurologischen Erkrankungen auftreten können, doch für alle, die jetzt vielleicht aufhorchen, fügt der Neurologe hinzu:

    "Wer nicht sichtbare Folgen der Polio hat, bei dem tritt das eigentlich nicht auf. Also es kann nicht eine stille Infektion gewesen sein."

    Die Ursache ist bis heute unbekannt, trotzdem lässt sich das Post-Polio-Syndrom ganz gut behandeln, glaubt Manfred Tesch, wenn man bei dem speziellen Menschentyp ansetzt, der durch die Kinderlähmung geprägt wurde:

    "Das sind ja leistungsorientierte Menschen, die eben im Zweifel die Treppe vor den anderen hoch laufen, um es sich und den anderen zu beweisen, im Moment ist unser Gedanke, dass die Krankheit aus einer Kombination von einer teilweisen Vorschädigung und einer chronischen Überlastung entsteht. Und wenn man also dem Patienten beibringt, "du musst nicht immer dich fordern, du darfst auch mal faul sein" und das mit so einem leichten Training kombiniert, dann finden sich also zum Teil Besserungen, auf jeden Fall ist es möglich, dass Verschlechterungen vermieden oder abgemildert werden."

    Die Kinderlähmung ist bei uns verschwunden, aber das Post-Polio-Syndrom noch längst nicht. Durch das späte Auftreten gibt es hier schätzungsweise eine Million Patienten mit PPS, darunter auch viele Migranten aus der Türkei oder aus Indien, die noch in ihrer Heimat erkrankt sind.

    Erst wenn die ganze Welt poliofrei ist, ist die Krankheit wirklich besiegt. Die WHO hat sich vorgenommen, das in den nächsten fünf Jahren zu erreichen. Sie wird dabei unterstützt von potenten Geldgebern wie der Bill Gates-Stiftung oder Rotary International. Denn, so heißt auf dem deutschen Plakat zur Aktion "End Polio now" im Jahr 2009: "Kinderlähmung ist immer noch grausam!"

    "Dies ist ein Baum, der nie gefällt wurde, um eine Krücke zu machen, die nie gebraucht wurde, von einem Kind, das nie an der Kinderlähmung erkrankte, da der Impfstoff immer zur Stelle war, dank der Menschen, deren Vision es ist, Polio weltweit zu besiegen."</in>